In der Rehbrunftzeit

Mit der Einrichtung meiner kleinen Jagdunterkunft im Dachgeschoss der ehemaligen Zwergschule im Dörfchen E. war ich heute ein gutes Stück weiter gekommen. Mein Rücken und meine Beine waren aber müde vom vielen Treppauf und Treppab an dem heißen Sommertag, als ich die Leiter zu meiner für den Abend ausgewählten Ansitzkanzel hinauf stieg. Einige hundert Meter hinter mir im Schatten alter Buchen stand mein Auto, in dem meine treue Münsterländerin Hummel ihren Verdauungsschlaf hielt. Sie war eigentlich jetzt im Sommer chronisch unterbeschäftigt. Heute hatte sie aber wenigstens eine simulierte Schweißfährte gearbeitet und eine Waschbärschleppe absolviert.
Sicherlich wusste sie als erfahrene Jagdhündin genau, dass diese Übungsarbeiten keine
echten Beutezüge waren, gleichwohl war sie aber arbeitsfreudig bei der Sache gewesen.

Die Sonne hatte es gut gemeint über Tag, und so war die Kanzel richtig aufgeheizt.
Bei geöffneten Fenstern hatte der Abendwind aber die Innentemperatur bald erträglich gemacht. Ich genoss nun das wohlige Gefühl, meine Glieder jetzt schonen zu dürfen.
Halbrechts von mir im Nordwesten zog sich die Abendsonne hinter den Hainbuchen auf dem Bergkamm zurück. Schon oft hatte ich sie bei ihrem Untergang von dieser Kanzel aus beobachtet. Ihre Sommerwende war schon vor einem Monat gewesen und jetzt rückte die Stelle, an der sie hinter dem Horizont verschwand, täglich ein Stück weiter nach links, bis im Dezember der Südwesten erreicht sein würde. Mir ging so durch den Sinn, dass den meisten Menschen in unserem Land, den Stadtbewohnern, der Anblick eines Sonnenauf- oder untergangs fast nur im Urlaub möglich ist, weil sonst das Häusermeer den Blick auf den Horizont verstellt.

Zunächst von mir unbemerkt, trieb weit unten in der Wiese vor mir ein Bock ein
auffallend helles Schmalreh. Woher die beiden Rehe kamen, hatte ich nicht gesehen. Der Bock war mir bereits von einem Ansitz vor ein paar Tagen bekannt. Ein Gabler war es. Der Figur nach aber bestimmt kein Jüngling mehr. Das Gehörn passte eigentlich nicht zu so einem Bock in den besten Jahren. Ich konnte es aber gut wiedererkennen, da die Gabel außergewöhnlich hoch angesetzt war. Im nächsten Jahr würde er sicher ein Sechsergehörn schieben, wenn er nicht vorher erlegt würde. So richtigen Schwung hatte sein Liebeswerben um das Schmalreh aber nicht. Nun ja, es war ja auch schon Abend, und in der Brunft gönnen sich die Rehböcke nicht die sonst üblichen Ruhezeiten.
Das Wild war so weit entfernt, dass ich den Drilling in der Ecke der Kanzel stehen ließ. Es würde ohnehin nicht näher zu mir kommen sondern weiter ins benachbarte Feldrevier ziehen, weil dort am Südhang des lang gezogenen Tales das Gras weniger sauer war.
Die Erfahrung hatten auch sicher die beiden Rehe schon gemacht, die jetzt ganz weit rechts von mir vor dem kleinen Erdsitz im Waldwinkel her in die gleiche Richtung zogen. Die Entfernung ließ auch über das achtfache Prismenglas ein richtiges Ansprechen dieser beiden Stücke nicht zu. Immerhin glaubte ich aber, dass es sich bei dem dunkleren um einen Bock handeln könnte. Vorausgesetzt, der Wind würde auch morgen wieder aus Süd-Ost kommen, sollte ich mich in aller Frühe dort einmal in den kleinen Schirm hocken.
Plötzlich standen links von mir in der großen Weide noch zwei Stücke schwarzes Damwild. Im Dämmerlicht konnte ich aber nur noch ihre Umrisse erkennen.

Es war Zeit abzubaumen.

Trotz bester Vorsätze war es doch schon zwanzig vor sechs Uhr, als ich am nächsten Morgen an dem kleinen Schirm an der Eckwiese ankam. Eigentlich hätte ich mir den Wecker noch früher stellen müssen, da ich ja weiß, dass ich in den ersten Stunden eines neuen Tages immer etwas langsamer bin und gern ausgiebig frühstücke.
Die vor mir liegende Wiese war in diesem Jahr nicht beweidet, da der Bauer sie für die zweite Heumahd, das Grummet, vorgesehen hatte. Das Gras, vielerlei Arten, war nass vom reichlichen Tau. Es würde also auch heute wieder einen heißen Tag geben.
Aber noch war der Morgen kühl. Ein leichter Wind wehte auf mich zu. Hinter mir
ein wenige Hektar großes Stück Mischwald, linker Hand ein Buchenaltholz und vor mir
Viehweiden, noch im Schatten, denn die Sonne war erst vor wenigen Minuten aufgegangen. Es war ziemlich ruhig, aber schon bald würde der Lärm von Autos und landwirtschaftlichen Maschinen, von Eisenbahnen und Flugzeugen bis zum späten Abend die Luft mit dem Dauerlärm erfüllen, den wir schon gar nicht mehr wahrnehmen. Ich genoss die frühe Stunde und reckte mich wohlig.

Plötzlich stand etwa hundert Schritt entfernt eine Ricke in der Wiese vor mir.
Sie hatte wohl dort im hohen Gras gelagert. Und kurz darauf stand auch ein Bock bei ihr. Er trieb auch das Reh etwas vor sich her. Aber nicht mit großem Elan. Offenbar stand erst einmal Frühstück auf dem Programm, denn beide begannen in der Wiese zu äsen. Das Reh war aber aus mir nicht ersichtlichem Grund beunruhigt. Sein Spiegel war sichtbar, wenn auch nicht bis zum äußersten gespreizt. Immer wieder unterbrach es das Äsen, warf das Haupt hoch, äugte umher und prüfte den Wind. Der Bock hingegen war völlig vertraut. Nicht die Spur eines Spiegels war zu sehen. Er hätte mir wohl gepasst. Ich schätzte sein Alter auf etwa fünf Jahre. Es ergab sich aber keine Gelegenheit für einen Schuss. Entweder stand er nicht breit oder das Reh war vor oder hinter ihm.
Plötzlich schien er aber überhaupt kein Interesse mehr an seiner Partnerin zu haben.
Er ließ sie einfach stehen und trollte schräg von mir fort über die Reviergrenze. Sie hingegen blieb noch eine Weile in meinem Blickfeld. Jetzt beruhigt, äste sie weiter. Plötzlich sah ich aber ihren Spiegel leuchten. Sie schreckte zweimal laut und anhaltend
als Zeichen, dass sie eine unbekannte Gefahr fühlte. Dann trollte auch sie in der gleichen Richtung fort, die auch der Bock schon eingeschlagen hatte.

Ich glaubte schon, die Vorstellung sei für heute zu Ende, als es rechts hinter meinem Rücken im Unterholz knackte und dann der Bock wieder auf die Wiese austrat, um dort offenbar nach der Ricke zu suchen. Er musste unbemerkt von mir über die Jagdgrenze zurück und in den Wald hinter mir gewechselt sein. Dass er mich dort nicht gewittert hatte! Nur wenige Meter weiter im Waldinnern wäre er in meinen Windschatten gekommen und hätte mich bemerkt. Als alter Bock hätte er dann nicht geschreckt sondern wäre still von dannen gezogen. So aber stellte er sich bald breit, und lag im Knall und schlegelte nur noch kurz. Nach der obligaten Wartezeit wollte ich ihn aus der Wiese holen, fand ihn in dem hohen Gras aber nicht.

Meine alte Hummel war im abseits geparktem Auto von dem Schuss wach geworden.
Sie erwartete mich schon. Ich setzte sie von meinem Schirm aus zur Quersuche durch die Wiese an. Sehen konnte ich sie in dem hohen Gras nicht immer, aber ich wusste ja, dass sie dort war, wo das Gras bewegt wurde. Als dann keine Bewegung mehr zu sehen war, wusste ich, dass sie am Stück angekommen war und es bewindete. Nun war es ja leicht, die Stelle wiederzufinden.

Gemeinsam haben wir den Bock dann an den Waldrand gebracht. Nur wollte Hummel ihn zunächst immer in die andere Richtung ziehen. Dann hatte sie aber begriffen, dass das Wild nicht mehr weglaufen würde und daher nicht mehr festgehalten werden musste.
Beim Aufbrechen hat sie dann andächtig zugeschaut. Der Bock hatte einen guten Kammerschuss. Sein Herz war aber unverletzt und ich machte meine Hündin damit genossen. Den Pansen hob ich ihr für später auf. Der Bock bekam als letzten Bissen einen Bruch von der Schwarzerle in den Äser.

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