Auf der Himmelsleiter am Erdbeergraben

Der Erdbeergraben zieht sich im Nordteil meines Pirschbezirks den Steilhang hinab ins Tal. Inmitten seiner schroffen Ufer murmelt eilig eines der vielen Bächlein der wasserreichen Gegend in den Traunbach, der wiederum die Nahe speist. Und die Nahe ist ja wegen der an ihren Ufern wachsenden guten Weine wohl bekannt. Vermutlich hat der Erdbeergraben seinen Namen, weil einmal viele Walderdbeeren an seinen Hängen wuchsen. Die Bezeichnung ist jedenfalls schon alt und steht auch so in der Forstkarte. Der Graben selbst besteht sicherlich seit der Eiszeit. Eigentlich kann man ihn wegen seiner Ausmaße schon als kleinere Schlucht bezeichnen.

Hier sieht man die sog. Himmelsleiter

Die Himmelsleiter hingegen ist neu. Sie wurde für jagdliche Zwecke von den Forstwirtschaftslehrlingen errichtet und bekam ihren Namen von mir. Sie ragte eines guten Tages, ich war einige Wochen nicht im Revier gewesen, in den blauen Sommerhimmel. Deshalb habe ich sie so benannt. Als Leiter bezeichnet der Jäger einfache Ansitzeinrichtungen, die tatsächlich nur aus einer gezimmerten Leiter und einem Sitz bestehen und entweder an einen Baum angelehnt sind oder von zwei Gegenstützen gehalten werden. So ist es bei meiner Himmelsleiter, die im Hang unweit des Erdbeergrabens an einer Kahlfläche im Wald postiert ist. Damit ich sie besteigen kann, ohne dass Wild mich sieht, habe ich den Aufstieg mit einem Tarnnetz verblendet.

Ein Wintersturm hat hier den Bestand an alten Fichten zerstört. Nach den Aufräumarbeiten wurde aber nicht etwa nach früherer Art in Reih und Glied aufgeforstet. Vielmehr haben die Förster darauf vertraut, dass der Wald sich hier ohne besondere Pflanzaktionen wieder ansiedelt. Und es sieht jetzt so aus, als sollte das wohl gelingen. Allerdings hat auch die Krautflora schon größere Flächen erobert und könnte manchem jungen Baum das Wachstum erschweren. Hier wird dann doch die eine oder andere forstliche Pflegemaßnahme notwendig sein.

Für das Wild, insbesondere für die Rehe, ist dieser Teil des Hanges jetzt ein günstiger Lebensraum. Die im Vergleich zum Altersklassenwald üppige und artenreiche Vegetation auf dem Boden bietet abwechslungsreiche Nahrung und Schutz vor Wind und Wetter. Schutz aber auch vor dem Auge des Jägers, denn fast mannshohe, dichte Farne oder Brombeersträucher sind eine dichte Sichtblende, die allerdings nicht die ganze Fläche überzieht. So ist doch die Chance gegeben, von der Himmelsleiter aus das eine oder andere Stück Wild zu erlegen. Besonders im Herbst und im Frühjahr genieße ich aber, in eine wollene Decke gehüllt, auch die Sonne und den Wind auf diesem Hochsitz. So auch an diesem Oktobernachmittag, an dem der Wind sich als sehr unzuverlässig zeigt. Mal kommt er von rechts aus dem Norden, um kurz darauf wieder aus entgegengesetzter Richtung an mir vorbei zu streichen. Sehr aufdringlich wird er allerdings nicht, die wenigen verbliebenen Blätter an der jungen Buche hinter mir lässt er kaum wispern. Es ist herbstliche Ruhe im Wald. Gelegentlich höre ich den munteren Triller des fliegenden Schwarzspechts und kurz darauf seinen erbärmlichen Ruf, wenn er auf einem Baum eingefallen ist. Sonst ist die Vogelwelt stumm. Die Aufzucht der Bruten ist abgeschlossen. Statt Energie mit Gesang zu vergeuden, verwenden die Standvögel sie jetzt vor dem Winter lieber für die Nahrungssuche.

Der Blick von der Himmelsleiter.

Mein Blick geht immer wieder über die Fläche im Halbkreis rund um meinen Sitz. Weibliches Rehwild und Kitze können noch bejagt werden. Aber kein Wild zeigt sich. Ich bin mir aber sicher, dass in unmittelbarer Nähe einige Stücke den hellen Herbsttag genau so genießen wie ich. Nur sehen lassen sie sich dabei nicht, obwohl mindestens im Gebiet vor mir der Wind meine Anwesenheit ihnen nicht verrät. Er nimmt bei seinem Wechsel zwischen Nord und Süd seinen Weg heute immer über Westen und ich spüre nie Nackenwind. Die Sonnenstrahlen wirken durch meine Wolldecke. Sie verursachen mir Wohlbehagen. Rechts von mir, knapp zwanzig Meter entfernt, bemerke ich eine leichte Bewegung. Ist der braune Fleck dort ein Wildkörper? Ja. Es ist der hintere Teil des Rumpfes von einem Reh. Haupt, Träger und Vorderläufe sind für mich nicht sichtbar. Eine junge Fichte unmittelbar davor verdeckt mir die Sicht darauf. Leise mache ich meine Büchse schussbereit. Das Reh bewegt sich nicht. Täte es einen Schritt nach vorn wäre es ganz von der Fichte verdeckt. Ich stelle mich schon darauf ein und will schießen, wenn es die Fichte passiert hat. Aber immer noch steht das Wild unbeweglich halb hinter der Fichte. Es genießt wahrscheinlich auch die Oktobersonne, die ich allerdings jetzt im Jagdfieber nicht mehr fühle. Minuten verstreichen noch, die Spannung in mir wird leicht unangenehm. Es kommt Bewegung ins Bild. Das Reh dreht sich, und ich kann sein Haupt sehen. Es ist ein Bock mit einem hohen Spießergehörn. Seit zwei Tagen hat er Schonzeit. Ich spüre wieder die herbstliche Sonne.

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