Der ungerade Kronenzehner

Das Wetter an jenem Herbsttag im Hunsrück war nicht freundlich, als Michael und ich zur Steinpilzkanzel pirschten. Doch der intensive Landregen war wenigstens abgezogen und feuchter, aber einigermaßen durchsichtiger Nebel hatte seinen Platz eingenommen. Es war etwa eine gute Stunde vor Einbruch der Dunkelheit. Mein Auto mit den Hunden darin hatten wir an dem nächsten größeren Waldweg zurückgelassen. Der gepflegte Pirschpfad führte über ein Rinnsal. Die starke Holzbohle, die sonst als Brücke darüber diente, war aufgehoben und einige Meter fort getragen. War das ein Streich von übermütigen Buben oder eine Schikane des als Streithansel überall bekannten Pächters des benachbarten Feldrevieres? Die Hirschbrunft des Rotwildes klang bereits ab. In meinem unweit gelegenen Pirschbezirk war es mir nicht gelungen, einen jungen Hirsch der Klasse IIIb zu strecken. In Michaels Bezirk waren die Chancen besser, und so hatte der Förster Erlaubnis gegeben, dass ich meinen Hirsch auch in Michaels Revierteil erlegen durfte. Wir hatten die geräumige Kanzel bald erreicht, von wo aus man Sicht auf eine breite Schneise hatte, über die ein stark begangener Rotwildwechsel führte. Das Wild trat hier häufig von rechts aus einem dichten Buchen- und Erlenjungholz aus, verweilte dann kurz auf der Schneise und zog dann weiter durch ein Fichtenaltholz. Wir saßen noch nicht lange,als Hundegebell von meinem Auto her durch den Wald schallte. Ein Pilzsucher oder sonstiger Waldfreund war wohl meinem Auto zu nahe gekommen. Ärger kam in mir auf. Hätte ich den Wagen weiter unten geparkt und einen längeren Anmarsch in Kauf genommen, wäre uns diese Störung erspart geblieben. Nun. Vielleicht nahm das Wild ja diese Störung nicht so übel. Das Tageslicht schwand nach und nach. Es hätte für einen sicheren Schuss noch ausgereicht. Ein Reh schreckte laut vor uns .Wir sahen es nicht, aber meine Akira, die kleine, zarte, aber vorlaute Terrierhündin hörte es im Auto und musste auf das Signal unbedingt antworten. Ihre beiden Schwestern und ihre Mutter wissen längst, dass das Schrecken eines Rehs kein Hundegebell ist, und bleiben ruhig. Akira aber hat einen sehr losen Hals, und es hat manchen Ansitzes mit Wildanblick bedurft, bis sie endlich ruhig blieb, wenn sie mit mir auf der Kanzel war, und ich direkt auf sie einwirken konnte. Aber oft habe ich mich auf Drückjagden schon gefreut, wenn Akira mit ihrer für einen Terrier außergewöhnlich guten Nase Wild aufgestöbert und mir das auch mit lauter Stimme angezeigt hatte. Das Büchsenlicht schwand, ohne dass wir Wild in Anblick bekamen.

Für den nächsten Abend hatte Michael die Fledermauskanzel zum Ansitz ausgewählt. In der Nähe dieser Kanzel hatten Waldarbeiter in den letzten Tagen Holz geschlagen. Der Weg zu dieser Kanzel war über und über mit dem abgesägtem Astholz der gefällten Fichten bedeckt und war auch für ein geländegängiges Fahrzeug unpassierbar. Wenn ich hier tatsächlich einen Hirsch schießen sollte, wäre der Wildtransport deswegen schwierig gewesen. Aber das Problem können wir lösen, wenn es da ist, sagten wir uns. Es gab ja noch einen anderen Weg, der allerdings wegen tiefer, mit Regenwasser gefüllter Fahrspuren auch nur von einem Trecker befahren werden konnte. Auch heute entsprach das Wetter nicht den Erwartungen an einen goldenen Herbsttag. Nieselregen bei grauem Himmel ließ die Welt matt erscheinen, wo sonst das Herbstlaub in vielen Farbschattierungen geprangt hätte. Aber unter dem Dach unserer Kanzel störte uns der Regen nicht, und auch dem Wild machte er wenig aus, wie sich bald zeigen sollte. Die Kanzel war so postiert, dass unmittelbar vor ihr eine Jungwuchsfläche war, in der man Wild noch sehen konnte. Rechts und links von dieser Fläche verliefen Brandschneisen vor Stangenholz und nach etwa 100 Metern schloss sich eine Fichtendickung an. Davor befand sich eine häufig angenommene Stangensulze. Wir hatten uns kaum gemütlich eingerichtet, als Michael mich an stieß und flüsterte: „Kitz“. Ja! Da stand ein für diesen Teil des Hunsrücks ungewöhnlich starkes Bockkitz, das auf die rechte Schneise schaute. Bald darauf stand auch die zugehörige Ricke wie aus dem Boden gezaubert bei ihm. Auch sie äugte in die Richtung, wie ihr Kitz. Unbeweglich standen beide Stücke so etwa eine Minute lang, als aus dem Bestand rechts ein Alttier mit Kalb langsam über die Schneise in die Fichtendickung zog. Dann ästen Ricke und Kitz im Nieselregen vor uns, kamen aber immer näher auf die Kanzel zu. Verflixt! Wenn die Ricke uns jetzt wittern und dann schrecken würde, wäre das eine Warnung für alles Wild im Umkreis. Zwar war der Wind günstig, aber würden nicht Duftpartikel von uns noch vorhanden sein, wenn sie direkt unter unserer Kanzel stand? Jetzt war es soweit. Das Kitz konnten wir noch sehen, aber die Ricke stand unmittelbar unter uns. Sie blieb aber ruhig. Offenbar hatte der Wind unsere Duftspuren auch verweht, und wenn sie jetzt nicht in unseren Rücken zog, würde sie uns nicht wahrnehmen. Dann zog das Kitz seitwärts ab. Die Ricke sahen wir nicht mehr. Vermutlich ist sie ihrem Sprössling gefolgt. Das Tageslicht wurde schon spärlich, als aus der Fichtendickung vor uns ein Hirsch austrat. Nach einigen Schritten blieb er erst einmal stehen und zeigte sich in voller Breite. Bei vollem Tageslicht wäre er nun mit dem Fernglas leicht anzusprechen gewesen, Jetzt hieß es aber erst einmal genau hinschauen, was es mit seinem Geweih auf sich hatte. Unsere beiden Ferngläser waren nun auf ihn gerichtet. Wegen der Entfernung konnten wir leise miteinander sprechen. „Der ist zu gut für mich“ , meinte ich. Michael aber sagte, dass er sicher sei, dass der Hirsch an einer Geweihstange nur vier Enden habe. Ich sah nochmals durch das Glas. Richtig. Da waren nur vier Enden. Ich fasste Ziel und ließ fliegen. Der Hirsch lag im Feuer. Nachdem ich repetiert hatte, warteten wir etwa fünf Minuten und gingen dann gemeinsam zu meiner Beute. Michael gratulierte mir mit dem Schützenbruch, und ich legte einen Inbesitznahmebruch auf den Hirsch. Es war inzwischen Nacht geworden. Michael ließ mich mit dem Hirsch eine viertel Stunde allein, um die zur Versorgung nötigen Dinge aus dem Auto zu holen. Was in dieser viertel Stunde in mir vorging, kann ich nicht beschreiben.

Auch der zur Bergung zur Hilfe gerufene Förster gratulierte mir herzlich zu meinem ersten Hirsch. Die Bergung war erwartungsgemäß schwierig. Der Förster hatte Gurte mitgebracht, und er und Michael zogen mit diesen Gurten, während ich, einen Vorderlauf des Hirsches in der Hand haltend, die Steuerung übernahm. In den bereits erwähnten Fahrspuren lief mir dann das Regenwasser von oben in die Gummistiefel, während Michael und der Förster von der Anstrengung schweißnass wurden. Nach einigen Pausen war es aber geschafft und wir hoben gemeinsam meine Beute auf den Wildanhänger des Forstamtes.

Zwei Tage später haben wir dann im kleinen Kreis meinen Hirsch bei einem leckeren Mittagessen „tot getrunken“. Dabei überreichte mir Michael dann die beiden auf ein Brettchen hübsch aufgesetzten Grandeln. Das Geweih hat nun einen besonderen Platz an meiner Trophäenwand.

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