Wintersauen im Nietelsiek

Es war kurz vorm Vollmond im Dezember. Der südliche Teutoburger Wald lag unter einer verharschten und geschlossenen Altschneedecke. Der beständige Ostwind versprach noch für einige Tage klares Winterwetter. Obwohl ich in der letzten Nacht erfolglos auf Schwarzwild angesessen hatte, war ich früh aus dem Bett und hatte mich bei Tagesanbruch in der Hasenkanzel in meinen Ansitzsack gemummelt. Der Drilling lehnte in der Kanzelecke in der Halterung. Meine Parson Russell Terrierhündin Ela schlief, ebenfalls warm eingepackt, auf dem Boden. Der Rehwildabschuss war für dieses Jahr erfüllt. Auch für den Küchenhasen hatte ich schon frühzeitig gesorgt.

Der Morgenansitz sollte vornehmlich einem starken Kohlfuchsrüden gelten, den ich schon mehrfach von dieser Kanzel aus gesehen, bei dem es aber nie gepasst hatte. Kohlfüchse, also die mit den besonders langen schwarzen Stiefeln und der schwarzen Luntenspitze, waren bei uns im Revier selten zu sehen. Die große Mehrzahl der Rotröcke dieser Gegend hat weiße Luntenspitzen und zählt daher zu den Birkfüchsen. Von dieser Kanzel am Waldrand aus hat man einen guten Blick über ein schmales Wiesental an der Westseite des kleinen Waldreviers, wobei etwa 20 Hektar Wiesenland dem Revier arrondiert sind. Die Reviergrenze besteht in dem auf der Talsohle verlaufendem Wirtschaftsweg. Der Hochsitz Hasenkanzel hat seinen Namen, weil man von ihm aus im Sommer tatsächlich viele Hasen sieht. Heute ließ sich aber kein Krummer blicken. Im Winter sind die Langohren schon vor Tagesanbruch aus dem Feld zurück im windgeschützten Wald. Anders die Füchse. Ihr Tisch ist im Winter nicht so reich gedeckt wie in der übrigen Jahreszeit. Oft sind sie daher bei Tagesanbruch noch nicht sehr erfolgreich bei ihrer nächtlichen Jagd gewesen und setzen sie in den Morgen hinein fort.

Die große weiße Fläche vor mir zeigte wenig Leben. Die Viehweiden waren von Hecken umsäumt, in denen ungewöhnlich viele Hundsrosenbüsche standen. Ein Umstand, dem die Gegend den liebevollen Spitznamen Hagebuttenländchen verdankt. Jetzt aber waren die Hecken schwarze Trennlinien auf dem weißen Tuch. Manchmal flog eine Amsel oder ein anderer kleiner Singvogel aus ihnen auf den Schnee, um aber schon bald wieder ihren Schutz aufzusuchen. Rechts von mir, zu weit für einen Schrotschuss, stolzierte eine Rabenkrähe in gravitätischem Schritt über den hart gefrorenen Schnee. Einer ihrer Ständer sackte aber ein und es schien, als fiele sie auf den Bauch. Eine gewisse Komik war in der Szene, und mir fiel der Spruch ein, der da sagt, dass es vom Erhabenen zum Lächerlichen oft nur ein Schritt sei. Die Krähe strich ab, eine weitere, die wohl am Waldrand in einem Baum gehockt hatte, folgte ihr.

Wohlige Müdigkeit, die aus meinem Ansitzsack hochkroch, war plötzlich wie weggeblasen. Da war doch etwas rechts unten im Tal auf dem Wirtschaftsweg! Ein Fuchs, wie das Fernglas bestätigte. Reineke hatte einen flotten Trab drauf, wobei er ein größeres Beutestück trug. Ich griff schon einmal nach dem Drilling, obwohl noch längst keine Schussentfernung gegeben war. Überhaupt hätte ich einen Schuss nur anbringen können, wenn der Rotrock den Weg auf meine Kanzel zu nahm. Das tat er aber leider nicht. Er blieb konstant außer Reichweite und legte seine Beute an einem Zaunpfahl ab, wo er etwas Schnee mit dem Fang darüber schob. Sehr sorgfältig nahm er die Tarnung aber nicht vor. Nachdem er noch eine Minute verharrt und vorsichtig den Waldrand einschließlich meiner Kanzel beobachtet hatte, zog er im rechten Winkel nach Westen ab. Bald war er hinter einer Hecke verschwunden, aber dann sah ich ihn noch einmal als kleinen Punkt auf dem Schnee der Kapelle auf dem benachbarten Klusberg zuschnüren.

"Dann wollen wir mal abbaumen" sagte ich zu meiner Hündin. Sie begriff das aber als Aufforderung auf meinen Schoss zu springen. Ich ließ sie gewähren und noch einige Minuten aus dem Fenster schauen, während ich sie tätschelte und an mich drückte. Dann kontrollierten wir noch, was der Fuchs am Weidepfahl versteckt hatte. Es war ein halber Hase.

Der Tag verging mit den üblichen Revierarbeiten und mit dem Nachholen eines kleinen Teils des in der letzten Nacht versäumten Schlafs. Noch bei Tageslicht hatte ich mich aber mit Ela in der zwar niedrigen aber geräumigen Kanzel im Nietelsiek eingeschoben. Hier lag eine Kirrstelle, die nur unregelmäßig von Schwarzwild aufgesucht wurde. Bei Ostwind hatte ich hier aber schon einige Sauen erlegt. Die Kanzel steht am Übergang von einem alten Mischwald zu einem forstlich kaum nutzbaren Quellgebiet, das mit Erlen, Holunder und Haselnussbüschen locker bewachsen ist. Von völlig verregneten Herbsttagen abgesehen ist die Szenerie hier eigentlich immer fantastisch, ob bei Tag oder bei Nacht. Die plump klingende Übersetzung des niederdeutschen Wortes Nietelsiek mit Nesselsumpf steht im krassen Widerspruch zu der Schönheit dieses Fleckchens, das mich manchmal an eine Märchenopernkulisse erinnert. Heute stand der Mond schon recht hoch, als das Tageslicht verschwand und bei der reflektierenden Schneedecke und dem wolkenlosen Nachthimmel vermisste ich es nicht. Die Erlenstämme warfen Schatten wie bei Sonnenlicht. Die Schatten würden bald kürzer werden und langsam immer mehr nach Osten fallen, wie der Mond seinen Weg nach Westen nahm. Am Morgen würde der Mond hinter meiner Kanzel untergehen, aber dann würde ich schon schlafen und hoffentlich würde dann ein Frischling in der Wildkammer hängen. Eigentlich ist es doch aber viel zu hell, dachte ich dann. Schon öfter hatte ich erfahren müssen, dass in ganz hellen Nächten das Schwarzwild nicht ausgetreten war. Eine Situation kam mir in Erinnerung, da an einer anderen Kanzel eine Rotte bei solchem Wetter und Licht wie heute in der Dickung neben einer Kirrung großen Lärm machte, aber kein Stück auf die freie Fläche austrat. Die Frischlinge wussten damals genau wo der verlockende Mais war und quiekten wie Ferkel in einem Bauernstall. Die Bache verbot ihnen aber, weiter ins Licht zu gehen und setzte ihr Verbot auch mit Hieben durch, die wieder von den Kujels mit ganz anderen Tönen quittiert wurden. Damals zog die Rotte langsam wieder ab. Für mich ein Zeichen, dass die Bache mich nicht gewittert hatte. Sie hätte sonst zur eiligen Flucht geblasen. Dann kam aber die Überlegung, dass es in den Nachbarrevieren in der letzten Nacht bei gleicher Lichtsituation doch auch einige Male geknallt hatte. Und außerdem mussten die Sauen doch Hunger haben. Bei anhaltend gefrorenem Boden leidet das Schwarzwild am meisten. Rehe und Hirsche können mit ihren Hufen Eicheln und Bucheckern frei schlagen, trockenes Laub oder Rinde äsen. Die Sauen können aber bei Frost nicht brechen. Die Zeit verging langsam, aber langweilig wurde mir nicht. Ich genoss nicht nur die gemütliche Wärme in meinem Ansitzsack, sondern auch die klare Luft der Winternacht, die Ruhe und auch die unbeschreibliche Stimmung des Ortes. Es mochten zwei Stunden vergangen sein, als ich weit vor mir ein Geräusch hörte, wie es starkes Wild im Unterholz und Laub verursacht. Jetzt war es plötzlich weg, um dann ebenso plötzlich wieder einzusetzen. Das sind Sauen, wusste ich sofort. Ich hörte dann die typischen Trippelschritte einer ganzen Rotte, wieder jäh unterbrochen. Es ist mir ein Rätsel, wie es der Leitbache gelingt, die ganze Rotte plötzlich zum Stillstand und Schweigen zu bringen und auch wie auf soldatischen Befehl wieder in Marsch zu setzen. Aber es funktioniert und ist typisch für Schwarzwild. Zunächst sah ich nur eine Bache am Rande der Lichtung spitz auf mich zukommen. Dann folgten viele größere und kleinere Sauen im Gänsemarsch und dann war plötzlich die ganze Bühne voll. Drei Bachen mit ihrem Nachwuchs machten sich über die Kirrung her. Bei der Menge konnte ja jede Sau nur ein paar Körnchen Mais abbekommen. Ich erkannte drei Kategorien von Frischlingen unterschiedlicher Größe. Die Kleinsten hatten noch ihr Streifenkleid, allerdings in plustriger Winterausführung an. Im krassen Gegensatz dazu standen ihre noch dünnen Läufe. So etwas hatte ich noch nicht gesehen. Ich wurde an die Jahre erinnert, als die Damen dicke Pelzmäntel und hohe Stöckelschuhe trugen. Gute Chancen, über den Winter zu kommen, gab ich diesen zu spät Gefrischten allerdings nicht. Es ging recht lebhaft in dieser Großfamilie an der Kirrung zu, und, wie in einer menschlichen Großfamilie auch, gab es reichlich Meinungsverschiedenheiten. Ich überlegte, ob es überhaupt sinnvoll sei, aus dieser großen Rotte ein Stück zu schießen. Schließlich würde dabei etwa zwanzig Wildschweinen, insbesondere aber den drei führenden Bachen klar werden, dass dieser Ort höchst gefährlich sei. Sie würden diese Kirrung für einige Monate meiden. Andererseits war fraglich, ob sich in dieser Mondphase oder in dieser Jagdzeit überhaupt noch einmal eine günstige Schussgelegenheit ergeben würde, und mein Beutewille war lange nicht mehr gestillt worden. Ich wartete, bis einer der größten Frösche etwas abseits allein und breit stand. Dann ließ ich fliegen und repetierte. Im Nu waren alle Sauen verschwunden. Das beschossene Stück lag am Platz, schlegelte noch einige male und verendete mit einem Seufzer. Es hat den tödlichen Schuss nicht mehr gehört. Gut so. Aber enttäuschend für meine Ela, die immer, wenn sie den Schuss vernimmt, glaubt, dass es jetzt zur Nachsuche geht. Nach der Arbeit in der Wildkammer war Mitternacht wieder längst vorbei. Am nächsten Morgen haben wir ausgeschlafen.

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