Ein Hirsch der Klasse IIa

Auch im wasserreichen Hunsrück gibt es mal schönes Wetter, und als ich im Herbst 2010 einige Wochen dort verbracht habe, hatte ich richtig Glück damit. An vielen Tagen gab es nach Morgennebel den ganzen Tag Sonnenschein und im Mischwald eine Farbenpracht, wie man sie eigentlich nur dem Indianersommer in Neuengland zuschreibt. Mein Pirschbezirk dort liegt in einem so genannten Rotwildkerngebiet, aber im Gegensatz zu früheren Jahren habe ich heuer weder visuell noch akustisch ein Brunftgeschehen ausmachen können.
Da ich für meinen Pirschbezirk einen Dreijahresvertrag habe, darf ich einmal in der Vertragslaufzeit statt des jährlichen IIIer_Hirschen einen IIb erlegen. Aber den muss man erst einmal bekommen.
Fast an der von Südwest nach Nordost verlaufenden Grenze meines kleinen Reiches steht ein Drückjagdbock, den ich durch das Anbringen zweier Bretter zu einer passablen Ansitzeinrichtung gemacht habe, die allerdings nur bei Nord- oder Ostwind zu nutzen ist. Und Ostwind hatten wir in jenen Wochen genug im Hunsrück.
Rotwild ist sehr scheu und äugt hervorragend, wie ich schon mehrfach erfahren musste. Daher tarne ich mich auf meinen Pirschgängen mit einem grünen Mückenschleier.
So ausgerüstet pirschte ich im Abendlicht auf diesen Platz zu. Als ich auf der zweiten Sprosse der unbequemen Leiter war, konnte ich schon über die Brüstung in Richtung Freifläche lugen, zog aber sofort den Kopf wieder ein. Da saß knapp siebzig Schritt vor mir ein starker Hirsch. Vermutlich der, den ich zwei Tage zuvor, allerdings weiter weg schon ausgemacht hatte. Mir schien, dass er in meine Richtung äugte.

Der Hirsch lag im Bett und ich dachte, er eräugt mich.

Ich kauerte also zunächst in dem Drückjagdbock wie in einer Kirchenbank in der Hoffnung, dass der Hirsch auch einmal in eine andere Richtung sehen würde, und ich mich etwas bequemer positionieren könnte.
Durch die Ritze zwischen zwei Brettern konnte ich sehen, dass er noch im Bett saß. Ob sein Haupt aber von mir weg oder zu mir hin gerichtet war, konnte ich wegen des hohen Bodenbewuchses ohne Fernglas nicht erkennen. Ein Wadenkrampf zwang mich, die kauernde Haltung zu ändern und das Sitzbrett einzunehmen. Nun musste der Hirsch meinen Oberkörper sehen können. Jetzt war aber auch ein Blick durch das Glas möglich, und erleichtert stellte ich fest, dass sein Windfang genau in die Gegenrichtung zeigte.

Ich konnte jetzt durch mein Glas sehen, dass er von mir abgewandt war.

Ganz langsam machte ich es mir nun auf dem Sitzbrett richtig bequem und machte meine 98er Büchse klar. Jetzt konnte ich auch in aller Ruhe mit dem Prismenglas sein Geweih betrachten. Mein schon zwei Tage zuvor gewonnener Eindruck, dass es sich um einen beidseitigen Kronenzwölfer handelte, wurde bestätigt.
Ich bin kein Rotwildexperte. Mit meinem Bücherwissen kam ich aber zu dem Schluss, dass der Hirsch noch nicht reif für die Kugel war und noch einige Jahre geschont werden musste. Fast eine ganze Stunde, während derer ich hoffte, dass vielleicht ein Adjudant mit weniger gutem Geweih auftreten würde, saß seine Majestät, der König des Waldes so im Bett und äugte in die Gegenrichtung. Ich habe nicht eine Bewegung wahrgenommen.

Es war ein beidseitiger Kronenhirsch. Und zu jung.

Dann erhob er sich und stand noch eine viertel Stunde breit wie ein Reiterdenkmal, ehe er langsam aus der Freifläche in die Erlendickung zog.
Konnte er nicht einen Zacken weniger in der Krone haben? Dann wäre er ein II-b-Hirsch gewesen und ich hätte ich ihn erlegen dürfen. So bleibt mir keine Trophäe, aber eine reiche Erinnerung.

 

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