Rotwild, Rehwild, Schwarzwild und ein Hase

Wie ich ja schon einmal schrieb, jage ich in einem Pirschbezirk im schönen Hunsrück, genauer gesagt in dem Teil, der Hochwald heißt.
Großer Gesellschaftsjäger war ich noch nie, aber in Gesellschaft jagen, ja das habe ich schon immer gern getan. Wahrscheinlich hängt das damit zusammen, dass wir Menschen ja 99,5 % der Zeit unserer Existenz uns von den Erfolgen gemeinschaftlicher Jagd ernährt haben. Und so hocken mein Jagdfreund Michael und ich oft gleichzeitig und manchmal auch zusammen im Wald und freuen uns schon, wenn wir Anblick haben, was dort im Rotwildkerngebiet auch nicht immer der Fall ist, denn im Unterholz ist das Wild meistens gut versteckt.
Schon im vorigen Jahr haben wir öfter gemeinsam auf der sogenannten Steinpilzkanzel angesessen aber nur selten Anblick gehabt. In diesem Jahr war es besser. Vielleicht, weil ich die dort vorhandene Äsung mit ein wenig Kalk und Thomaskali etwas appetitlicher gemacht habe. Auch die dort aufgestellte Stangensulze wird heuer besser angenommen. Die einen Hektar große Freifläche vor der Kanzel wird leider nicht gepflegt. Man könnte dort nur mit regelmäßigem Mulchen und geringer Düngergabe eine herrliche Wildwiese schaffen.
Aber das wäre eine Aufgabe der Forstverwaltung.

Eines abends im Juni hatten wir dort ein Reh in Anblick, das auf den ersten Blick die Ansprechmerkmale eines Schmalrehs hatte. Aber das Haupt sah nach Ricke aus. Und ein klärender Blick zwischen die Hinterläufe war nicht möglich. Getreu dem Spruch
„Wenn du unsicher bist, ob es ein Schmalreh ist, dann ist es keins“ blieb es unbehelligt.

Einige Tage später, ich saß allein dort, kam besagtes Reh wieder auf die Lichtung, und fast gleichzeitig trat eine starke Ricke mit praller Spinne aus. Jetzt war die Jungfernschaft des ersten Stückes offensichtlich. Ehe ich aber fliegen lassen konnte, flüchteten plötzlich beide Rehe auf meine Kanzel zu und dann neben ihr her in das Fichtenaltholz in meinem Rücken. Was mochte die Ursache für die unverhoffte Flucht sein? Ich war es jedenfalls nicht. Dessen war ich mir sicher.
Einige Minuten tat sich nichts, aber dann kam Bewegung in das schon recht hohe Farnkraut am Ende der Lichtung. Ein Haupt tauchte ganz kurz auf und verschwand dann wieder. Kurz darauf mehrfach dasselbe Bild. Immer wieder tauchte kurz das Haupt auf und war wieder weg, ehe ich es ins Glas bekam. Dann teilte sich das Farnkraut und ein Kalb stand auf der von Gräsern und Binsen bewachsenen Fläche. Seine Ausmaße ließen ein Hirschkalb vermuten. Nun sah ich auch das zugehörige Alttier durch den Farn ziehen. Beide Stücke konnte ich jetzt längere Zeit beobachten.

Die Hirschkuh mit ihrem Kalb an der Steinpilzkanzel

Während das Alttier ruhig äste, machte das Kalb seine Kapriolen wie ein sich ungestört fühlendes junges Reh. Es versuchte an den Leckstein der Stangensulze zu gelangen, indem es sich auf die Hinterläufe stellte. Ich war so fasziniert von seinem Benehmen, dass ich vergaß, die Kamera aus der Bereitschaftstasche zu nehmen. Plötzlich kam von hinten unter oder neben der Kanzel her ein Hase in voller Fahrt auf die Lichtung, drehte eine Runde und verschwand eben so eilig wieder.
Als ich die Kanzel verlassen musste, war die Szene wildfrei und ich mit dem Anblick des Abends hoch zufrieden.

Am nächsten Abend, das Schmalreh sollte nun endlich fallen, waren wir wieder zusammen auf der Kanzel. Weit rechts oben im Hang entdeckte Michael bald das Schmalreh, das aber die höheren Regionen heute vorzog. Gegen neun Uhr kam aber links aus der Dickung das bekannte Hirschkalb auf die Lichtung. Im Gegensatz zu mir war Michael aber fototechnisch auf dem qui vive und nahm
gut mit einem Mückennetz getarnt, einige Bilder und Videos auf. Sie zeigen, wie das Kalb auf das inzwischen auch auf die Lichtung getretene Alttier zu sprang und zunächst einmal einen gehörigen Schluck Muttermilch zu sich nahm. Danach ließ es sich gerne vom Tier belecken. Es wurde noch manche Videosequenz aufgenommen, aber langsam schwand das Tageslicht. Wir wollten eigentlich Schluss machen, aber das Rotwild wollte die Vorstellung nicht beenden. Wir waren regelrecht auf der Kanzel gefangen, denn vergrämen wollten wir das Alttier nicht. Es wurde dunkler und dunkler. Endlich zogen unsere Festsetzer zunächst nach rechts in eine Erlendickung und von dort über eine weitere, schmalere Lichtung in ein Fichtenstangenholz mit Unterwuchs. Nachdem wir eine entsprechende Zeit gewartet hatten und auch kein Knistern mehr zu vernehmen war, stieg mein Begleiter zuerst die Leiter hinunter. Er war gerade auf dem Erdboden , als das Alttier aus den Fichten zurück auf die schmale Lichtung kam, und versuchte noch mich zu warnen. Derweil war ich aber schon auf der Leiter und die Hirschkuh nahm mich wahr. Sie schreckte mich mit einem ganz tiefen Laut an. Ich stieg weiter die Leiter unter den Missfallenskundgebungen des Waldgespenstes hinab. Wir schlichen uns aus der Szene, das Stuck mahnte weiter, sprang aber nicht ab.

Ich berichtete Tags drauf dem Revierleiter von der Sache und erwähnte, dass die Kanzel nun wohl vorläufig tabu sei, um das Rotwild nicht endgültig zu vergrämen. Der Förster meinte aber, dass das Stück nicht vergrämt sei, da es nicht abgesprungen war. Die Kanzel sei daher weiter benutzbar.

Am Sonntag war meine Heimfahrt geplant, und am Samstag nach dem Fußballspiel, das die deutsche Mannschaft gegen die Argentinier deutlich gewann, wollten wir aber noch einmal auf der Steinpilzkanzel bei bestem Wind auf das Schmalreh warten. Es gab uns aber wieder einen Korb. Alttier und Kalb hingegen zeigten sich für eine knappe halbe Stunde, setzten uns also nicht fest. Schon beim ersten Blick von der Kanzel war uns aufgefallen, dass Binsen großflächig platt gewalzt waren. Das konnten nur Sauen in der letzten Nacht gewesen sein.
Wir sprachen darüber, dass das abendliche Vogelkonzert im Juli doch weniger üppig als im Mai ausgefallen sei, als in der jetzt beginnenden Dämmerung plötzlich eine Sau die Lichtung querte.
Starker Frischling oder Überläufer? Bache oder Keilerchen? Was war das dort im hohen Bodenbewuchs? Inzwischen stand das Wild kurz spitz zu uns und verschwand dann links in der Dickung. Wir trauerten noch der verpassten Gelegenheit nach, als Michael mir aufgeregt auf die Schulter tippte und nach rechts aus dem Fenster wies. Da zog eine andere Sau just dort, wo das Alttier vor zwei Abenden mich beschimpft hatte. Keiler flüsterte Michael, und ich machte mich fertig. Halb stehend, halb knieend fasste ich die Sau im Zielfernrohr und schoss, als sie unmittelbar vor der Dickung war. Ich hatte den Eindruck, sie weich getroffen zu haben.
Das Tageslicht war inzwischen sehr spärlich, als mein Jagdfreund mit seinem Suchscheinwerfer vom Auto zurück kam. Dort wo ich den Anschuss vermutete, war kein Schweiß. Etwa fünf Meter davon lag aber reichlich Lungenschweiß, und wir machten uns bei diesem Pirschzeichen unter den üblichen Vorsichtsmaßnahmen daran, der Schweißfährte auch ohne Hund zu folgen. Nach wenigen Metern war die Sau schon vor einen Baum gelaufen, ein Zeichen, dass die Blutleere im Gehirn schon eingetreten und die Augen mit dem Lebenssaft nicht mehr versorgt wurden. Wenige Meter weiter fanden wir sie dann verendet. Michael versorgte sie, und ich brachte sie noch in der Nacht in die Wildkammer. Ich schätzte das Keilerchen auf 35 Kilo und traf damit genau das Gewicht, wie die Waage des Wildhändlers bestätigte.

Horüdho!


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