Abendansitz im Hunsrück

Nach regnerischem Sonntag Vormittag klarte es auf. Nachmittags wehte ein beständiger, leichter Ostwind. Es war der zweite Sonntag im Mai. Am Vortag hatte sich zum 65.ten mal das Ende des zweiten Weltkrieges gejährt. Und dieses Ende hatte ich als Schulbub noch erlebt.

Ich entschied mich für einen Abendansitz auf dem Drückjagdbock an der
Südwestecke meines Pirschbezirks. Dieser liegt im Hunsrück. Genauer gesagt in dem Teil des Hunsrücks, der als Hochwald bezeichnet wird. Meine Jagd galt einem Rehbock, aber auch ein Schmalreh wäre mir willkommen gewesen. Nachdem ich gestern abends, durch einen ziemlichen Temperatursturz unangenehm überrascht, schon frühzeitig die Fichtenkanzel in einem anderen Revierteil geräumt hatte, war ich heute wärmer angezogen. Der Weg vom Auto zum Beginn des Pirschpfades zu meinem Sitz war nur kurz, und im Wald blieb ich so oft stehen um zu schauen, dass ich trotz der dicken Lodenjoppe nicht ins Schwitzen kam. Ein warmes Sitzkissen und eine alte Wolldecke mit einem Schlitz, dass sie wie ein Poncho getragen werden kann, sollten mich außerdem vor Kälte schützen.

Schon öfter hatte ich hier im letzten Jahr angesessen. Und die Szene war mir eigentlich vertraut. Trotzdem war mir heute manches neu und fremd auf meinem kurzen Weg. Der Winter hatte Spuren hinterlassen. Herab gestürzte Äste, fahles Altgras, feuchtes, braunes Laub, mit seinem typischen Geruch. Die Bodenvegetation war noch frühlingshaft. In wenigen Tagen würde das neue Laub der Bäume so dicht sein, dass die früh blühenden Kräuter auf dem Waldboden kein Licht mehr bekommen und unscheinbar würden. Aber jetzt war der Vorfrühling noch nicht zu Ende und der Mai noch nicht richtig da. Im Moos blühte der Sauerklee in größeren Kolonien. Ich pflückte mir eine der kleinen Blüten, um sie genauer anzuschauen. Die fünf elliptischen Blütenblättchen sind weiß, aber, senkrecht von feinen Äderchen durchzogen, enden sie im Grund des Blütenkelchs in einem hellen Goldton.

Hier sehen Sie Sauerklee

Auf dem Drückjagdbock lässt es sich bequem sitzen,wenn man sich rittlings auf die diagonal gelegte Bank setzt und eine Ecke als Rückenstütze nutzt. Zwei von mir angenagelte Bretter erlauben das Auflegen der Waffe in Richtung auf die beiden Freiflächen, auf die Wild austreten kann. Langsam bestieg ich die wenigen Sprossen und verharrte, nachdem ich über die zur größeren Freifläche gewandte Seite des Bockes sehen konnte, zunächst einmal regungslos. Im Zeitlupentempo führte ich das Glas an die Augen. Der große, rotbraune Fleck am Waldrand gegenüber war aber kein Stück Rotwild. Der Stumpf einer rotfaulen Fichte erwies sich als Ursache dafür, dass mir das Herz im Hals schlug. Ja. Dieser Stumpf hatte mich schon im vorigen Jahr einmal im Abendlicht genarrt. Wie schnell man so etwas doch vergisst.

Nachdem ich mich überzeugt hatte, dass kein Wild auf der Lichtung sichtbar war, machte ich es mir auf dem Bock bequem. Jetzt blickte ich erst einmal nicht mehr suchend umher sondern ließ das, was sich meinen Augen und Ohren bot, auf mich einwirken. Und ich fühlte mich in einer wunderbaren Welt. Ich nahm die kühle, saubere Luft wahr, spürte den leichten Wind von vorn über mein Gesicht streicheln. Meine Augen unterschieden das helle,frische Buchenlaub von dem ins Türkis gehende Blattwerk der Schwarzerlenkultur, die links von mir vor nicht einmal allzu langer Zeit angelegt worden war. Davor hier und da eine einzelne Fichte, auch ein kleiner Horst Naturverjüngung in ganz dunklem Grün, oder eine hell braune, ehemals junge Buche, die den Lebenskampf nicht bestanden hatte und nun ganz langsam wieder zu Humus werden würde.

Wie der Baumbestand an den Rändern der Lichtung bot auch der Boden ein farbenreiches Bild. Allerdings war braun hier der vorherrschende Farbton. Von den gefiederten Waldbewohnern schlugen die Buchfinken unermüdlich, wie schon den ganzen Tag. Einige Schwarz- und einige Singdrosseln probten schon mal für das bevorstehende Abendkonzert. Wild zeigte sich hingegen nicht, wenn auch in den Erlendickungen viel Rotwild seine Einstände hat.

Die Zeit verging, wurde mir aber nicht lang. Mein Kopf war hier frei von dem Alltagskram, der uns meistens daran hindert, die Schönheit der Schöpfung überhaupt wahrzunehmen. Mir ging so durch den Sinn, wie wenigen Menschen solche Stunden,wie der Jäger sie immer wieder draußen erleben darf, überhaupt beschieden sind. Es wurde merklich kühler, der Himmel war jetzt fast wolkenlos. Ich kuschelte mich in meine Decke und genoss die wärmende Wirkung .

Das fröhliche Trillern, das der Schwarzspecht nur im Fluge von sich gibt, fiel mir auf. Gleich wird er in einen Baum einfallen und seine erbärmlichen Klagelaute in die Welt rufen, dachte ich. Dann kam er auch schon von hinten ganz niedrig über mich geflogen und landete auf einem Stumpf in der Mitte der Blöße rechts vor mir. Er stimmte auch sofort sein Klagelied an. Zunächst reckte er seinen Kopf weit nach vorn und nahm ihn dann langsam unter Krümmen seines Halses zurück an seinen Körper, wobei er den lang gezogenen Ton ausstieß. Das etwa zehn mal. Dann, als sei nun genug geklagt, bearbeitete er das faule Holz des Stumpfes, dass die Späne nur so durch die Luft flogen. Mir fiel dabei das von meinem Vater oft gebrauchte Sprichwort ein, dass die Faulen am Abend fleißig würden.

Hier hat der Schwarzspecht ganze Arbeit geleistet.

Das Tageslicht ließ nämlich nach, und das für diese Jahreszeit in der Morgen- wie Abenddämmerung typische Vogelkonzert setzte langsam ein. Zunächst gaben nur einige der Sänger Proben ihres Könnens, aber bald war der Chor in voller Besetzung präsent. Die Singdrosseln taten sich mit ihrem Melodienreichtum besonders hervor. Auch an solchen Wohlklängen dürfen sich nur wenige Menschen erfreuen, dachte ich. Bald wurde das Konzert aber leiser, und immer weniger Sänger machten mit. Zuletzt waren es in unmittelbarer Nähe noch drei oder vier. Dann wurde es still. Aber jetzt begann ein Tauber über mir sein Rufen.

Ich ging den Pirschpfad im letzten Tageslicht zurück. Wild hatte ich nicht gesehen. Aber zwei und eine halbe Stunde hatte ich intensiv gelebt.

 

zurück