Eine fast unglaubliche Geschichte

 

Lange habe ich überlegt, ob ich diese Begebenheit überhaupt erzählen sollte. Sie ist so unwahrscheinlich, dass sie leicht der Bismarck -sentenz, dass nie so viel gelogen würde, wie vor der Wahl und nach der Jagd, zugeordnet werden könnte. Jägerlatein kann sehr vergnügliche Unterhaltung sein. Liegt mir aber nicht. Es ist vielmehr so, dass alle meine Erzählungen im unmittelbaren Zusammenhang mit meinen Erlebnissen als Jäger entstanden sind. Mal kurz nach dem Erleben aufgezeichnet, mal erst nach einiger Zeit anhand der Notizen in meinem Jagdtagebuch. Zu letzteren gehört auch diese kleine Geschichte.

Es war im September 2009, als ich mich abends auf der Fledermauskanzel in meinem Pirschbezirk in einem Rotwildkerngebiet des Hunsrücks angesetzt hatte. Diese Kanzel ist noch ein solides Bauwerk von Forstwirtschaftskräften aus früherer Zeit. Fast zu geräumig, mit Platz für zwei Personen. Sie ist die Kanzel, von der aus man eigentlich immer etwas sieht, weil feste alte Wechsel an ihr vorbei gehen. Schussfeld ist vor der Kanzel auf eine dreieckige Fläche von etwa einem halben Hektar, aber auch aus dem rechten Fenster auf eine breite Schneise im Erlenstangenholz.

Es war früh herbstlich, trockenes Wetter. Die Hirschbrunft, in diesem Jahr ziemlich verhalten, war schon vorbei. Ich hatte noch Rotwild frei und eigentlich galt mein Ansitz ihm. Wie schon seit vielen Tagen in diesem September hatte ich auch heute keinen Anblick von dieser Wildart. Was war wohl die Ursache für die Heimlichkeit des Wildes? Ich war bei schwindendem Licht schon dabei, mein Gerödel zusammen zu packen, als ich plötzlich wahr nahm, dass ein Reh von links hochflüchtig die Schneise unter dem rechten Fenster überfiel. Ich glaubte nicht, dass es zurück kommen würde. Aus der selben Richtung traten aber ganz ruhig noch zwei Rehe aus und ästen. Ich sprach sie als Ricke und Kitz an. Das Licht reichte noch für einen sauberen Schuss auf kurze Entfernung, und so ließ ich auf das Kitz fliegen. Es lag im Knall und ich repetierte, um auch die Ricke noch mit zu nehmen. Die aber sprang ab und war nicht mehr zu beschießen. Ich stellte meine Waffe ab. Alsich noch einmal den Platz fixierte, an dem das Kitz lag, stand es auf und flüchtete in den Bestand, aus dem es zuvor gekommen war. Oh verflixt! Typischer Krellschuss wie aus dem Lehrbuch, dachte ich. Hättest Du es doch besser nicht sofort auf die Ricke versucht, sondern noch gewartet. Sie wäre ja wahrscheinlich doch noch zu ihrem Kitz gekommen. Nun war erst einmal eine Kontroll suche geboten. Am Anschuss war kein Pirschzeichen zu finden. Die Dämmerung war ja auch bereits fortgeschritten. Meine Parson Russell Terrier Hündin Ela führte mich am langen Riemen in den Bestand und schon bald wurde der Riemen schlaff. Ela stand am Stück, das sich unter einen Haufen von verdorrtem Fichtenreisig eingeschoben hatte. Ich sah, dass es kein Kitz, sondern ein äußerst schwaches Knopfböckchen war. Während ich Ela lobte und abliebelte, stand das Böckchen auf und flüchtete. Da die Hündin noch am Schweißriemen war, hatte sie auch keine Chance, das zu verhindern. Ich war völlig überrascht, vergaß aber nicht, den Platz mit Fährtenband zu kennzeichnen. Schon bald hörte ich das Böckchen ganz in der Nähe schrecken. Dann kam das Schrecken von etwas weiter weg. Dann wieder von einem anderen Platz. Etwa eine halbe Stunde lang hörte ich mir die Äußerungen äußersten Unmuts aus immer unterschiedlichen Richtungen noch an. So lang brauchte ich, um mit Hund und Gerät zum Auto zurück zu kommen.

Der am nächsten Morgen verständigte Revierleiter hielt eine Nachsuche mit einem Profigespann nicht für Erfolg versprechend. Er schloss aus meiner Schilderung, dass der Bock vermutlich gar nicht, auf jeden Fall nicht ernsthaft verletzt sei. Sonst wäre er still ins Wundbett gegangen und hätte nicht so lange schreckend den Ort gewechselt.

Beim fälligen Besuch des Schießstandes ergab sich, dass die Waffe ganze elf Zentimeter zu hoch schoss. Der dabei die Schießaufsicht führende Jäger ist mir seit Jahren bekannt. Er hat in meiner Heimatstadt seine Bundeswehrzeit verbracht und fährt noch jedes Jahr zu einer Art Veteranen-Leistungschießen zum dortigen Schießstand, der in dem Feldrevier liegt, das ich dreizehn Jahre mit bejagen durfte. An Gesprächsstoff mangelt es daher nie, wenn wir uns einmal treffen. Auch er meinte, dass der Bock gar nicht getroffen sei. Er wisse von Fällen, dass Rehwild, wenn es über schossen werde, sich schlagartig drücke. Man könne dann durchaus den Eindruck haben, es liege im Knall. Ich bin nun um eine Erfahrung reicher. Wenn mir aber vor diesem Erlebnis ein Jäger die Geschichte, wie sie sich zu getragen hat, erzählt hätte, so hätte ich sein Gesicht genau beobachtet, um sicher zu sein, keinen Bären aufgebunden zu bekommen.

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