Eisheilige

St. Pankratius ist einer der Eisheiligen und sein Namenstag ist der 12. Mai. Er war Märtyrer und ist für seine Bezeichnung als Eisheiliger eben so wenig verantwortlich, wie Mammertus, Servatius, Bonifatius und die kalte Sophie es sind. Bevor es korrekte Wetteraufzeichnungen gab, war es aber schon Erfahrung der Bauern, dass an den Namenstagen dieser Heiligen in unseren Breiten mit Nachtfrösten zu rechnen ist.

Die jagdlose Zeit seit Februar war mir heuer sehr lang vorgekommen, und als die Jagd auf Rehböcke und Schmalrehe wieder auf ging, verhinderten allerlei Umstände die sofortige Reise in den Hunsrück. So war schon fast ein Drittel des Monats Mai verstrichen, als ich die Tür zu meiner gemütlichen Ferienunterkunft wieder aufschloss und mich auf einige Wochen Jagdzeit einrichtete. Eine Zeit ohne Stress und Alltagswidrigkeiten und mit viel Zeit für meine Hunde sollte es werden. Und wenn mir Jagderfolg beschieden sein sollte, um so besser. Jagdfreund Michael hatte schon in den vergangenen Wochen verschiedene Frühjahrsarbeiten im Revier erledigt, und wir freuten uns beide auf Tage gemeinsamer Jagd.

Die Weihnachtskanzel hat ihren Namen von mir deshalb bekommen, weil sie im letzten Jahr zur Weihnachtszeit völlig überraschend für mich auf Veranlassung des Forstamtsleiters aufgestellt wurde. Zwar wurde die Kanzel nicht speziell für mich gebaut, aber ich darf sie benutzen. Und das tat ich denn auch bei meinem ersten Abendansitz in diesem Jagdjahr. Nach Jagd war mir eigentlich noch gar nicht zu Mute. Ich wollte erst einmal auch innerlich im Revier ankommen. Gleichwohl stand meine Waffe natürlich geladen und gesichert in einer Ecke der Kanzel. Ringsumher in nächster Nähe herrschte reger Flugverkehr. Meisen verschiedener Art suchten geschäftig nach Futter für ihre Bruten. Ich freute mich über den Anblick seltenerer Arten wie Mönchsmeise und Schwanzmeise. In einer junge Fichte rechts vor mir entdeckte ich sogar ein Goldhähnchen. Ob es ein Sommer- oder Wintergoldhähnchen war, weiß ich nicht.
Das abendliche Vogelkonzert setzte ein, und ich genoss es in der Stille ohne den Lärm von Straßen. Der an Baumarten reiche Wald um mich herum war frühlingshaft grün. Die Fichten hatten schon gut ausgebildete frische Triebe.
Die Buchenblätter schienen mir ihre Größe schon fast erreicht zu haben und leuchteten in ganz hellem Grün.

Birken- und Erlenlaub hingegen waren noch etwas zaghaft. Überhaupt war der Mai hier oben noch nicht ganz eingetroffen. Als ich eine Pusteblume suchte, um den Wind zu prüfen, fand ich keine, während unten im Tal der Löwenzahn schon Samen gebildet hatte. Dafür fand ich auf meinem Weg zum Hochsitz aber noch Veilchen in voller Blüte.

Ganz am Ende der vor mir liegenden Schneise nahm ich eine Bewegung wahr. Ein Blick durch das Prismenglas mit 8-facher Vergrößerung bestätigte Wild. Dem Gebäude nach ein jugendlicher Hirsch im Bast. Ein so genannter Kolbenhirsch.
Jetzt kam ein zweites junges Stück Rotwild hinzu. Dessen Haupt blieb allerdings immer hinter Fichtenzweigen versteckt. Nach kurzer Zeit zogen beide Stücke ab, und ich konnte mich wieder mehr auf das Vogelkonzert einstellen.
Plötzlich trat rechts aus dem Jungwuchs ein Reh auf die Schneise und zog schnellen Schrittes auf die am linken Rand errichtete Stangensulze zu. Jetzt im Haarwechsel ist das Schalenwild besonders dankbar für Salz. So auch dieses Reh.
Intensiv beleckte es den Stamm der Sulze. Dabei wandte es mir sein Hinterteil zu, und ich konnte durchs Glas sehen, dass zwischen seinen Hinterläufen auch nicht nur der Ansatz eines Gesäuges war. Mein erster Eindruck, dass es ein Schmalreh war, das jetzt geschossen werden durfte, wurde so bestätigt. Schnell war die Büchse schussbereit. Wenn das Reh sich jetzt breit stellte, würde ich schießen.
Nur wandte es mir ständig seinen Spiegel zu und schleckte intensiv weiter. Dann warf es plötzlich auf und machte einen Schlusssprung nach vorn. Es blieb noch den Bruchteil einer Sekunde stehen und flüchtete dann nach links in den Jungwuchs dort.
Ich war mir ziemlich sicher, dass es keinen Wind von mir bekommen hatte. Weswegen hatte es sich aber in Sicherheit gebracht ? Ein Fuchs war es, der jetzt links aus dem Bestand kam. Dort, wo das Reh eben noch verhofft hatte. Warum sich das Schmalreh von ihm gestört fühlte, weiß ich nicht. Aber die Jagd gibt uns ständig neue Rätsel auf, die mit unseren Erfahrungen und Kenntnissen nicht zu lösen sind.
Dieser Fuchs war krank. Sein Bauch war aufgedunsen, und das konnte nicht daran liegen, dass er tragend war. Dazu war die Jahreszeit zu weit fortgeschritten.
Außerdem schonte er eine Vorderbrante. Unter dem Gesichtspunkt des Tierschutzes hätte ich sein Leiden beenden sollen, aber wenn es eine Fähe war, würde vielleicht ihr Geheck verhungern. Also blieb die Kugel im Lauf, und der Fuchs schnürte weiter.

Der landwirtschaftliche Wetterdienst hatte für den nächsten Tag kalten Nordwind prophezeit und recht behalten. Zum Abendansitz am Servatiustag Tag wählte ich daher die Steinpilzkanzel aus, auf der mir ein leichter Wind ins Gesicht blies. Die große Waldwiese vor mir, von jungen Fichten und Erlen umschlossen, war in ihrem hinteren Bereich noch nicht wie im Sommer vom Wurmfarn überwuchert. Aber das würde in einem Monat schon anders sein. Zur Zeit bot die Fläche jedenfalls noch frische Äsung im Überfluss.
Warm eingepackt genoss ich die abendliche Stimmung, das bewusste Einatmen der frischen Luft und das Hinhören auf die vielen unaufdringlichen Geräusche des Waldes. Ja, hier jagen zu dürfen, war ein Geschenk.
Ein Eichhörnchen, schwarzbraun und der Größe nach ein Weibchen, huschte eilig von Waldstück zu Waldstück über die baumlose Fläche. Ein Fuchs, aber heute eine kerngesunde Fähe, überquerte auch die Wiese. Offenbar auf dem Heimweg zu ihren Welpen in Burg Malepartus trug sie etliche Mäuse in ihrem Fang. Das Rotkehlchen in der Fichte vor mir war aber über Ermelines Anblick nicht erfreut und begleitete ihre Anwesenheit mit Gezeter, bis die Füchsin nicht mehr zu sehen war.

Eine Stunde hatte ich so beobachtend und lauschend verbracht, als ein Rehbock weit hinten am Ende der Wiese aus dem Wald trat. Ein Blick durchs Fernglas bestätigte, dass er wohl passen würde, wenn er nur in entsprechende Nähe käme. Zunächst aber fegte er mit seinem Gablergehörn heftig ein kleines Bäumchen, das sich dort angesiedelt hatte. Fast kahl war es inzwischen. Und wie ein Wüterich schlug er mit einem Vorderlauf auf den Boden vor dem Stämmchen. Er markierte so die Grenzen seines Einstandsgebietes. Dass er sich hier wie der Revierinhaber benahm, erstaunte mich etwas. Im letzten Jahr war doch hier ein guter Sechserbock, den ich geschont hatte, der Chef gewesen. Was mochte aus dem geworden sein? Da ich ihn noch nach der Jagdzeit gesehen hatte, war er sicherlich nicht erlegt worden.
Derweil äste der Gabler langsam aber stetig immer näher auf mich zu. Er hat den Knall des Schusses nicht mehr gehört. Bevor ich ihn versorgte, hielt ich ihm eine kurze Totenwacht und gab ihm einen letzten Bissen in seinen Äser. Ich bin eben ein altmodischer Jäger und kein zeitgemäßer Wildbestandsbewirtschafter.
Mit dem beglückenden Gefühl, erfolgreich gejagt zu haben, ging für mich der Tag zu Ende.

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