Septemberansitz im Hochwildrevier

Das Jagdjahr 2012 war bisher nicht sehr erfolgreich gewesen. Zur besten Rehjagdzeit im Mai hatten wichtige Termine Fahrten ins Revier unmöglich gemacht. Später waren zwei Schmalrehe, die ich bereits im Rucksack glaubte, im letzten Moment vor der Schussabgabe abgesprungen. Nicht, dass sie mich bemerkt hätten.
Sie zogen vor, plötzlich das Feld zu räumen, weil andere Waldbewohner, einmal ein junger Kolbenhirsch und einmal ein Fuchs, in der Szene erschienen. Später war dann meine eigene Unschlüssigkeit, ob ein Hirsch noch jung genug sei, Ursache dafür, dass er unbehelligt weiter ziehen konnte anstatt meine Jahresstrecke zu erweitern. Und oft war auch das Wetter wenig jagdfreundlich. Es heißt ja, dass der Jäger nicht jagen soll, wenn der Wind jagt. Und ein Jagdfreund sagt manchmal: „Des Jägers Fluch ist schlechtes Wetter und Besuch” um hinterher zu murmeln „schlechtes Wetter geht ja noch”.
Auch in den ersten Septembertagen hatte ich kein Wild erlegen können. Der vorherrschende Nordwind schränkte die Zahl der möglichen Ansitzplätze in meinem Bezirk stark ein, und auch das Wild war noch recht inaktiv für die Jahreszeit, was auch von den Jägern aus der Nachbarschaft bestätigt wurde. Heute aber war ein schöner Spätsommertag mit kaum wahr zu nehmendem Süd-West Wind. Meine Hunde waren ausgiebig gelaufen und waren gut gefüttert „ins Bett” gebracht, als ich auf meine bevorzugte Kanzel kletterte. Schon als ich auf der Leiter war, konnte ich durch die nachwachsenden Fichtenzweige einen großen Wildkörper vor mir erkennen. Das musste Rotwild sein.

Ganz langsam und mit einem Tarnnetz vor dem Gesicht richtete ich mich auf der Kanzel ein. Ein einzelner starker Hirsch stand an der Salzlecke am Ende der vor mir liegenden Freifläche. Er hatte nicht bemerkt, dass ich ich mich herangeschlichen und die Leiter zur Kanzel bestiegen hatte. Offenbar hatte er aber seinen Bedarf an Salz schon gestillt, denn er leckte nicht mehr intensiv am Holz der Stangensulze. Irgendetwas störte ihn aber wohl. Mag sein, dass ein Insekt um sein Haupt schwirrte, was ich aus der Entfernung natürlich nicht sehen sondern nur vermuten konnte. Mit dem Geweih stieß er einige male in die Luft. Dann hielt er sein Haupt wieder still, und ich konnte seinen Kopfschmuck mit dem Jagdglas 8x56 genauer betrachten. Ein ungerader Sechzehnender stand dort. Seine rechte Stange hatte acht Enden, die linke hingegen nur sechs. Also war er ein gerader Vierzehnender? Nein, nein. Dann hätte er auf jeder Seite eine Stange mit sieben Enden haben müssen. Es gibt eben nicht nur Jägerlatein sondern auch Jägermathematik.
Jedenfalls war das Geweih außergewöhnlich, denn neben den Aug- Mittel- und Endsprossen hatte es rechts eine Eissprosse und beidseitig Wolfssprossen vorzuweisen. Nicht genau zu erkennen war, ob die linke Krone auch eine Becherkrone war. Mir schien sie etwas flach.
Als ich nach einigen Aufnahmen mit meiner Kleinkamera einen Moment nicht aufpasste, war der Hirsch verschwunden. Ich freute mich, dass ich den Anblick gehabt hatte. Der Abend fing ja gut an.
Nun lud ich meine Waffe, lehnte mich in der geräumigen Kanzel bequem zurück und schaute mich in Ruhe um. Seit meinem letzten Ansitz hier hatte der Herbst doch einiges verändert. Das Gras am Wege erschien nicht mehr so saftig. Die gelben Blütenstände des Greiskrautes waren zu Fruchtständen wie aus Watte geworden mit Milliarden kleiner Fallschirme, damit der Wind die Samen verteilen konnte. Die goldenen Knöpfchen des Rainfarns waren braun geworden. Nur an Stellen, wo die Sonne nicht so hin gekommen war, strahlten sie noch gelb. Die Blätter der Erlen, sonst grün glänzend wie mit Öl eingerieben, waren blass und gelblich. Die kleinen Habichtskräuter aber blühten noch wie im Frühling.

Aus dem hohen Bodenbewuchs schob sich auf den Weg rechts von mir ein Rehkitz. Sicher eines der beiden, die mir mit der zugehörigen Ricke aus der Schonzeit schon bekannt sind, dachte ich zunächst. Rehe sind ja sehr standorttreu. Aber dann kamen mir Zweifel. Bei meinem letzten Ansitz hier in der Schonzeit waren die beiden beobachteten Kitze doch schon recht stark gewesen. Fast wie Schmalrehe. Und dieses Kitz war eher gering. Vermutlich war es also doch von einer anderen Ricke und zudem später gesetzt worden. Inzwischen war auch die Ricke noch etwas weiter entfernt an den Wegesrand gekommen, blieb aber mit dem Hinterteil ihres Körpers noch im hohen Bodenbewuchs unsichtbar. Ich hatte meine Waffe schon in Position gebracht und dabei wohl ein kleines Geräusch verursacht. Das hatte die Ricke nicht gestört, aber das Kitz stand sofort spitz auf mich zu und äugte in Richtung meiner Kanzel.

Wohl eine Minute stand es so. Auch wenn es breit gestanden hätte, wäre ein Schuss unmöglich gewesen, denn Splitter des Zerlegungsgeschosses hätten nach Austritt aus dem Körper des Kitzes die Ricke im Hintergrund noch erreichen können. Nicht nur still und breit, auch allein stehen muss Wild, wenn es beschossen wird. Beide Stücke verließen den Weg wieder, und ich sah sie wohl noch eine viertel Stunde immer wieder mal kurz in der hohen Krautflora bummeln und naschen.
Noch eben waren Meisen in den Fichten vor mir emsig bei der Futtersuche, aber eine wohl etwas zu früh wach gewordene Fledermaus schaukelte durch die Luft und kündigte die Dämmerung an.
Wo vorhin der Hirsch gestanden hatte, stand jetzt ein Reh. Die Ricke von eben? Ich war verwundert, denn ich hätte doch sehen müssen, dass sie dorthin gezogen war. Ich richtete meine Waffe auf das Stück und drehte das Zielfernrohr auf die maximale Vergrößerung. Potz Blitz! Das war ja ein Bock.
Und dazu noch ein junger Spießer, der in mein Kontingent passte. Und frei und breit stand er auch.

Er hat den Schuss nicht mehr gehört.

Ich breche gewöhnlich von mir erlegtes Wild an meinem Auto auf. Eine praktische Vorrichtung wird auf die Anhängerkupplung gesetzt, und mit einer Winde kann auch ein schweres Stück hochgezogen und versorgt werden. Einige Flaschen Trinkwasser und auch noch ein damit gefüllter Kanister sowie Messer in ausreichender Zahl und sonstige nützliche Dinge wie Autan als Zeckenschutz und Handtuch sind im Wagen. Aber der Weg zum Auto war weit und das Böckchen wurde immer schwerer, so dass ich eine Pause einlegen musste. Als ich am Auto ankam, hörte ich ein anders Auto kommen. Auch der zuständige Förster war auf Jagd gewesen, kam rein zufällig vorbei, freute sich, wünschte mir Waidmannsheil und nahm den Bock gleich mit.
Ich fuhr mit dem beglückenden Gefühl heim, an einem schönen Septemberabend Beute gemacht zu haben.

Ho Rued Ho !

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