Morgenansitz auf der Steinpilzkanzel

Die Steinpilzkanzel ist eine solide Jagdeinrichtung nahe der Südgrenze meines kleinen Pirschbezirks im Hunsrück. Sie ist zwar überdacht aber nicht als geschlossene Kanzel, wie man sie heute allenthalben in der Landschaft sieht, zu bezeichnen. Geräumig bietet sie Platz für zwei Personen. Geradeaus blickt man auf eine rechteckige Freifläche, die einmal eigens für jagdliche Zwecke mit einer riesigen Fräse geschaffen wurde und sozusagen eine grüne Lichtinsel im Schatten des Waldes ist. Die Fläche ist vor langer Zeit einmal mit Gräsern und Kleearten eingesät worden. Aus Sparzwängen wird die Wiese aber nicht mehr gepflegt, und der Wald erobert sie mit Farnen und anfliegenden Laubholzsämlingen langsam zurück.
Nach rechts schaut man den Hang nach Osten hinauf durch eine Bestandslücke auf eine abgeerntete Fläche aus der Zeit des Altersklassenwaldes, die jetzt auch von einer vielfältigen lichthungrigen Vegetation überzogen ist. Jagdlich nutzbar ist die Kanzel allerdings nur bei nördlichen und östlichen Winden. Bei Südwind würde dieser die menschlichen Geruchspartikel auf die Fläche vor der Kanzel tragen und der Westwind diese Duftspuren den Hang hinauf wehen, bevor mit der Abenddämmerung der Talwind einsetzt. Das Wild würde mit seinem für uns unvorstellbar gutem Geruchssinn wittern, dass die Luft nicht rein ist und nicht aus der Deckung treten oder die Gegend weiträumig umgehen.

Ich bin seit gestern wieder hier in dieser mir so lieb gewordenen Landschaft. Der August ist zwar erst in den zwanziger Tagen, aber der Herbst ist schon da. Das Heidekraut blüht, und die auch in diesem Jahr wieder reichlichen Vogelbeeren auf den Ebereschen sind rot. Statt Vogelkonzerten gibt es jetzt aber nur noch tausendfaches Zirpen der Grillen. Das Gras wird gelb bis hellbraun. Das Wetter ist sonnig und weich. Die Fernsicht gut. Der Wind bläst nicht. Er streichelt. Aber sein Streicheln ist mir nicht nur ein Verheißen häufigeren Jagderlebens in den nächsten Wochen sondern auch schon ein Ankündigen des Winters danach. Jetzt ist es Zeit, die Welt draußen besonders dankbar wahrzunehmen.
Es war noch fast dunkel, als ich den Pirschpfad vom Waldweg zur Kanzel erreichte. Dieser Pfad, vom flüchtigen Blick kaum erkennbar, führt über einige kleine lichte Stellen mit Kräutern, Gräsern und Binsen. Meine Stiefel wurden hier nass vom reichlichen Morgentau, einem Schönwetterboten. Noch war es aber sehr kühl und kaum spürbar windig in der Morgenstille. Oben auf der Kanzel angekommen freute ich mich, so früh aufgestanden zu sein. Einen jungen Tag allein draußen zu erleben, ist immer wieder wohltuend.
Schnell und leise war die Waffe geladen und sicher abgestellt. Da ich mit Rotwild rechnen konnte, trug ich meine Kappe mit Netzvorhang, um mein helles Gesicht gegebenenfalls schnell tarnen zu können. Rotwild beobachtet nämlich auch nach oben, während Rehwild nur in die Ebene schaut. So wie wir Menschen in einer Straße der Stadt auch nicht sehen, wer im ersten Stock oder noch höher „im Fenster liegt“. Ursprünglich war Rotwild nämlich Bewohner offener Landschaften und musste im Lebenskampf darauf achten, ob nicht vom nächsten Berg oder Hügel ein Feind nahte. Rehwild hingegen war vornehmlich Waldbewohner, und der Blick nach oben war ihm durch das Blätterdach verstellt. Für den Blick nach oben war es daher nicht ausgerüstet. Es konnte also den auf dem Baum lauernden Luchs nicht sehen. So sieht es auch heute den auf hoher Kanzel sitzenden Jäger nicht, wenn er sich nicht auffällig bewegt.

Mein Pirschbezirk liegt in dem Teil des Hunsrücks, der Hochwald genannt wird. Rotwild gibt es hier überreichlich. Davon zeugen schon die vielen Baumstämme, von denen die Rinde abgeschält ist. Wo aber viel Rotwild ist, fühlt das Rehwild sich nicht so wohl. Es wird sehr heimlich. Zudem hat in diesem Jahr der lange und harte Winter bei den Rehen seinen Tribut gefordert, so dass sie nicht mehr so zahlreich sind. Die Jäger in der Nachbarschaft waren jedenfalls mit den Ergebnissen der Bockjagd bisher nicht zufrieden. Ich hingegen konnte mit meiner Rehwildausbeute zufrieden sein. Bei dem seit August auch zu bejagenden Rotwild war mir allerdings noch kein Erfolg beschieden.
Es war inzwischen richtig Tag geworden. Ich pustete Distelsamen, von dem ich immer ein Schraubglas voll auf allen Ansitzeinrichtungen habe, aus dem Kanzelfenster, um die Luftströmung zu kontrollieren und schaute den weißen Fallschirmchen nach. Sie schwebten entweder aus meinem Gesichtsfeld nach hinten ab oder fielen auch sanft zu Boden, wenn sie in den Windschatten der Kanzel oder einer jungen Fichte gelangten.
Plötzlich stand wie hin gezaubert eine junge Ricke mit Zwillingskitzen mitten auf der Freifläche vor mir.
Ich hatte sie nicht kommen sehen. Vielleicht hatte das Trio im hohen Bodenbewuchs gelegen. Jetzt war jedenfalls faszinierendes Geschehen vor mir, das ich gern beobachtete. Die Kitze tollten umher, während ihre Mutter ausgiebig an der Stangensulze ihren Salzbedarf deckte.

Rehkitze und Wildkatzen sind für mich das non plus ultra an Eleganz. Leider währte die Freude des Beobachtens nur etwa fünf Minuten, weil ich ein Hüsteln nicht verhindern konnte.
Die Ricke warf auf und entschied sich, die Freifläche zu verlassen. Das geschah nicht besonders schnell und fluchtartig, aber doch bestimmt. Die Kitze folgten ihr. Anschließend schreckte die junge Zwillingsmutter nicht.
Rehe schrecken aus vielen Gründen. Vor allem auch, wenn sie eine ungewisse Gefahr vermuten. Bei einer erkannten Gefahr, beispielsweise, wenn sie einen Jäger wahrgenommen haben, flüchten sie still, ohne zu schrecken. Rehböcke schrecken aber auch , um ihre Reviergrenzen anzuzeigen. Ich interpretierte das Verhalten der Geiß jedoch so, dass sie keine ernsthafte Gefahr vermutete.
Es war auch langsam sonnig geworden und es ging auf neun Uhr zu. Meine Hunde hatte ich schon vor dem Ansitz im Dunkeln zu ihrer Waldtoilette geführt. Sie schliefen sicher noch friedlich, und so hatte ich keine Eile und auch noch keine Lust abzubaumen.
Halt. Da war doch etwas. Langsam bewegte ich meinen Kopf etwas nach rechts. Dort war aus dem Fichtenjungwuchs ein Rehbock ausgetreten. Ich sah durch das Fernglas. Jährling, Spießer ging es mir durch den Sinn. Den darfst Du mit nehmen.
Nachdem ich den Bock geborgen hatte, gab ich ihm einen kleinen Fichtenzweig in den Äser und bedeckte ihn mit einen größeren Zweig als Erlegerbruch.

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