Ansitz an der Wegschere

Eigentlich habe ich es gar nicht so gern, wenn Wild schon „draußen” ist, während ich noch einen Hochsitz einnehme. Lieber ist mir, wenn es etwas später austritt, und ich Zeit und Ruhe habe, selbst erst einmal auch innerlich anzukommen. Wenn ich erst einmal schauen kann, wie sich die Szene darstellt oder sich seit meinem letzten Besuch verändert hat. Aber der Jäger muss im hier und jetzt leben und entscheiden.

Die an diesem Spätnachmittag im September ausgewählte und von der Windrichtung bestimmte Ansitzeinrichtung war eine hohe Kanzel an einem verschwiegenen Platz, wo zwei seit langem nicht mehr gepflegte Forstwege sich wie eine Schere kreuzen. Ich kann aber nicht direkt auf dem kürzesten Weg zur Kanzel gehen. Der führt nämlich mitten durch ein Wildeinstandsgebiet, und wenn hier Wild daheim ist, wird es durch die Witterung des Menschen, die ihm der Wind ja irgendwann zuträgt, beunruhigt oder mindestens gewarnt. Und älteres, erfahrenes Wild erkennt auch, ob ein harmloser Spaziergänger oder Waldarbeiter seine Duftspuren hinterlassen hat, oder ob es ein für ihn gefährlicher Mensch war.
Ich pirschte also über einen kleinen, aber etwas beschwerlichen Umweg zur Kanzel.
Unterwegs leuchtete ein Prachtexemplar von Fliegenpilz am Wegesrand. Nun ist der Fliegenpilz ja neben vierblättrigem Kleeblatt und Schornsteinfeger eins der gängigsten Glücksbringersymbole. Sollte diese Pilz mir heute auch Jagdglück signalisieren?

Als ich dann vor der Kanzel stand, musste ich erst meinem Alter Tribut zollen und eine Minute verschnaufen, ehe ich aufstieg.
Auf den unteren Sprossen der Leiter wurde ich noch vom Buschwerk gedeckt. Auf halber Höhe war ich aber für Wild, das eventuell auf einer breiten Schneise rechts von mir stehen konnte schon sichtbar. Und hastige Bewegung nimmt das Wild sofort war. Also hieß es, den oberen Teil der Leiter noch langsamer als im Schneckentempo zu passieren. Ein verstohlener Blick nach rechts zeigte jedoch eine von Wild leere Fläche.
Ein Blick nach links wurde von Fichtenzweigen und dem Ast einer Eberesche aufgefangen. Die reifen Früchte leuchteten rot. Ja, der Sommer war vorbei.

Unter dem Kanzelboden hindurch sah ich aber schon ein Reh vor mir auf dem rechten Weg bei der Äsung. Ich hatte nämlich hier durch Verbesserung der Säurestruktur des Bodens das Gras leckerer und die sonstige Bodenvegetation artenreicher gemacht. Eine Maßnahme, die von Rehen und Hirschen honoriert wird.
Das weitere Besteigen der Kanzel und das Laden des Karabiners musste nun mit äußerster Behutsamkeit geschehen. Und wie das so ist im Leben. Was sonst so routinemäßig und leise abläuft wie das Schalten beim Autofahren, ging heute nur zögerlich. Aber letztendlich war die Waffe geladen und abgestellt, ohne dass das äsende Schmalreh beunruhigt war. Doch einen Steinwurf links von ihm entfernt stand plötzlich ein weiteres Reh in den jetzt trockenen Himbeer- und Brombeersträuchern.

Ein Bock. Und was für einer! Sein Gehörn war für die Verhältnisse im Revier außerordentlich stark. Der würde mir schon passen, dachte ich. Aber erst einmal wollte ich ihn beobachten. An Schießen war im Moment ohnehin nicht zu denken. Zwar war die Entfernung nicht zu weit. Das Strauchwerk verdeckte aber seinen Körper so, dass ich nur den Träger und das Haupt ausmachen konnte. Also hieß es abzuwarten, zumal der Bock ganz langsam auf den Weg Richtung Schmalreh zu zog.

Auf dem Weg stand dieses derweil etliche male sehr günstig für einen Schuss. Es war völlig arglos, wie ich an seinem Spiegel erkannte. Rechts von der Kanzel war aber inzwischen ein anderes Schmalreh auf die große Freifläche zum Äsen ausgetreten. Ich vermute, dass es die Schwester des ersten war. Aber auch sie blieb natürlich von mir unbehelligt. Wartete ich doch auf den Bock. Der zog auch weiter auf den Weg zu, wie mir schien, aber unendlich langsam. Jetzt wurde er völlig durch eine junge Fichte verdeckt. Dann schob er sein Haupt mit dem gut vereckten Gehörn und schließlich auch seinen Träger ins Freie. Jetzt noch einen Schritt und er stand gut sichtbar für ein Foto zusammen mit dem Schmalreh am Wegesrand. Ehe ich ihn aber richtig auf de Display meiner kleinen Kamera hatte, entschloss er sich zum Richtungswechsel und ging zurück in die Beerensträucher. Von dort zog er mit dem Rücken zu mir gewandt in die nächste Fichtendickung.
Auch so ist eben manchmal Jagd.
Das Schmalreh war ebenfalls verschwunden, aber das Stück rechts von mir konnte ich ja jetzt mitnehmen. Das war jedoch inzwischen von mir unbemerkt so nah heran gewechselt, dass es über das Zielfernrohr nicht sauber zu schießen war. Schüsse steil nach unten in die nächste Nähe sind immer problematisch.
Es zog sich dann auch hinter einen Strauch zurück und ließ nur noch seinen Rücken fotografieren, ehe es in den Erlen verschwand.
Ich fand mich damit ab, heute mal wieder ohne Beute heim zu fahren, als das erste Schmalreh wieder aus der Dickung auf den Weg kam. Jetzt zögerte ich nicht lange. Als der Schuss verhallt war, blieb die Drossel in der hohen Fichte hinter mir einen Moment ruhig. Dann setzte sie ihr Abendlied fort. Während ich noch auf der Kanzel saß, bereit zu einem eventuell erforderlichen Nachschuss, zog oben über den linken Weg eine Bache in die Fichtendickung, in der auch mein Bock verschwunden war.
Hinter ihr trippelten Frischlinge im Streifenkleid. Zwei konnte ich im hohen Gras erkennen. Es mögen aber auch mehr gewesen sein. Das Schlusslicht in dieser Prozession bildete eine Wutz von etwa zwanzig Kilo.
Ich baumte ab, gab dem Schmalreh seinen letzten Bissen und versorgte es. Vielleicht kommt mir der brave Bock bei einem nächsten Ansitz dort . Und wenn nicht, soll er sich seines Lebens freuen.

Horüdho!

zurück