24 Stunden im Leben eines Rehwildjägers

Montag, 3.5.2004. Fast 20.00 Uhr. Eigentlich hätte ich schon vor einer Stunde sitzen müssen. Aber wie immer war der Tag wieder voll gepackt mit Arbeit und so wurde es wieder zu spät. Bis vorhin hatte ich noch einen Frischling abgeschwartet, den ein Jagdgast tags zuvor im letzten Büchsenlicht erlegt hatte.

Nun war ich froh, die müden Knochen etwas entlasten zu können und wollte einen ruhigen Abend genießen. Meine kleine nur einen Meter über dem Boden platzierte Ansitzkanzel stand am Waldrand. Vor mir lag die Eckwiese, so genannt, weil sie an zwei Seiten über Eck vom Wald umrandet ist. Ich freute mich daran, dass der vom Rehwild sehr geschätzte Löwenzahn nach seiner Vertreibung vor einigen Jahren die Eckwiese wieder zurückerobert hatte. Einige Bauern in der Nachbarschaft betreiben subventionsanimiert jetzt extensive Weidewirtschaft, ohne Dünger, ohne Chemie, Mahd erst nach dem 16. Juni. Solches Gelände liebt die Pusteblume, die ihre Samen in Milliarden kleinen Fallschirmen dem Wind anvertraut, der sie natürlich dann auch in die intensiv bewirtschafteten Wiesen trägt. Sehr weit entwickelt war der Bewuchs vor mir.

Ich hatte mich kaum häuslich auf meiner Kanzel eingerichtet, als links aus dem Wald ein Reh in die Wiese zog. Obwohl ich derartige Situationen schon unzählige Male erlebt habe, bekam ich auch dieses Mal wieder den wohl bei allen jung gebliebenen Jägern bekannten kleinen Herzstillstand. Ein Bock war es, der sich im saftigen Gras gütlich tun wollte. Ein Blick durch das Fernglas zeigte mir, dass es sich um den bereits bekannten Spießer handelte. Dem Gebäude nach war es ein mehrjähriger Bock, der für sein Alter eigentlich ein stärkeres Gehörn haben müsste. Früher hätte man diesen Bock als abschusswürdig -schreckliches Wort- bezeichnet. Heute weiß der Jäger aber, dass eben dieser Bock im nächsten Frühjahr ein sehr stattliches Gehörn schieben kann, zumal er gut im Wildbret stand. Ich gönnte ihm jedenfalls die Chance, zumal ich ohnehin auf Schmalrehe aus war. Der Drilling blieb also in der Kanzelecke stehen. Eine gute halbe Stunde äste der Bock nun etwa 30 Meter vor mir. Er war so vertraut, dass man seinen Spiegel kaum ausmachen konnte.

Etwa 300 Meter weiter traten drei Rehe aus dem Edeltannenbestand in die obere Schweinewiese aus. Durch das zehnfache Glas konnte ich eins als Schmalreh ansprechen, da es, noch im Winterfell, den Spiegel deutlich durch die Schürze geteilt hatte, und wesentlich kleiner war, als die offensichtlich zugehörige Ricke. Sie zogen auf die Hasenkanzel zu, auf der verabredungsgemäß doch Mitjäger E. sitzen wollte. Warum knallte es denn nicht? Das wäre doch ein Hegeabschuss gewesen …

Ein Gewitter kam auf, der Bock zog zurück in den Wald und ich zog mich in mein unweit abgestelltes Auto zurück. Schließlich bleibt man ja beim Gewitter nicht mit einem Blitzableiter im Arm auf der Kanzel sitzen. Bei geschlossenem Fenster kam mir bald die Luft im Auto recht unangenehm vor. Richtig! Da war ja noch ein Rest Hundefutter im Kofferraum, Gemisch aus Schlund, Blättermagen und Pansen. Schon leicht anbrüchig. Das musste doch bei Ela und Akira, die im Auto geblieben waren, Appetit anregen. Das grenzte ja schon an Tierquälerei.

Als der Regen aufhörte kamen dann die Hunde zu ihrer Abendmahlzeit. Ich stieg noch einmal auf meine kleine Kanzel, weil das Rehwild insbesondere nach Gewitterregen gern in die Wiesen austritt. Es tat sich aber nichts mehr.

Zurück in der Jagdunterkunft erfuhr ich dann, dass mein Mitjäger die Hasenkanzel wegen eines Hexenschusses gar nicht besetzt hatte. Nun stand für mich fest, dass ich, richtigen Wind vorausgesetzt, am nächsten Morgen dort mein Glück versuchen würde.

Dienstag, 4. 5. 04. Im Revier schlafe ich immer hervorragend, weil einerseits der Schlaf dort Mangelware ist, andererseits das Leben draußen an der frischen Luft so richtig müde macht. So wurde ich gut ausgeruht mit dem ersten Tageslicht wach und frühstückte zuerst einmal ausgiebig, bevor es zur Hasenkanzel ging. Ich fuhr zunächst durch die Feldmark, um auf der Rückseite des Reviers am Emdebach Ela und Akira in einer großen, aber meistens wildreinen Wiese Gelegenheit zu geben, sich zu lösen. Auf der Rückbank meines Autos steht bei solchen Gelegenheiten die Transportbox, die von beiden Hunden gern angenommen wird. Sie wissen genau, dass es ohne Box nicht ins Revier geht.

Während mein Diesel langsam über einen Feldweg in der von der Bodenreform einigermaßen pfleglich behandelten Heckenlandschaft tuckerte, sah ich links vom Auto im Wintergetreide einen Hasen im Pott liegen. Ich hatte kaum meinen Wagen zum Stehen gebracht, als er sich schon davon stahl und durch die nächste Hecke verschwand. Nun hat mir Akira in diesem Frühjahr schon viel Kummer gemacht, weil sie den Fuchs so gar nicht böse findet und die Hasenspuren auf der Jugendprüfung zwar anzeigte, aber nicht ordentlich arbeitete. Ich hatte ihr auch schon damit gedroht, dass sie ohne Besserung in dieser Hinsicht in die Schönheitszucht käme. Das hat sie aber nicht groß beeindruckt. Der Groschen fiel einfach nicht bei ihr und die bestens geeigneten Hasenspuren, die Ela als junger Hund bis an den Horizont verfolgt hätte, ließen sie kalt. Trotzdem wollte ich auch diese Gelegenheit nutzen in der Hoffnung, dass es ja einmal endlich in diesem Terrierkopf Klick machen musste. Ich setzte sie also im taunassen Getreide in Fluchtrichtung des Hasen oberhalb der Sasse an. Als sie wieder keine Anstalten machte, die Spur anzunehmen, blieb ich einfach stehen und ignorierte sie, anstatt sie anzufeuern. Ich wandte mich ab und tat, als wenn ich sie nicht sähe, beobachtete meinen lieben Hund mit der peripheren Sehtechnik des jagenden Autofahrers. Akira blieb stehen, äugte einer Lerche nach und schien ganz zufrieden. Doch was war das? Sie stocherte im Getreide, nahm Wittrung auf, ging langsam in Richtung des verschwundenen Hasen ab und wurde nach und nach schneller. Jetzt war nichts mehr mit Ignorieren. "Ei, so brav mein Hund", rief ich ihr nach. Schon kurz hinter der Hecke muss sie den Hasen gestochen haben, denn ich hörte ihren jiffenden anhaltenden Sichtlaut über das Tal schallen. Also, dieser Tag fing ja gut an.

Es dauerte lange, bis Akira zurück kam und jetzt untersuchte sie die Sasse genau und wollte die Spur sogar noch einmal arbeiten. Ich nahm sie aber auf meinen Arm und knuddelte sie ausgiebig, bevor wir die Fahrt fortsetzten.

Nun musste auch Ela sich noch lösen, was auch wieder Zeit in Anspruch nahm und so war es dann fast acht Uhr, als ich mich bei Westwind, aus dem Tal heraufwehend, auf der Hasenkanzel einrichtete. Derweil tuckerte auf dem Asphaltweg, der die Reviergrenze bildet, ein großer Trecker heran und bog in eine große Viehweide ein. Dort fuhr er, noch recht weit von mir, an den Innenseiten des Stacheldrahtzaunes entlang die ganze Wiese ab, bevor er in die Nächste einbog. Ich konnte mir auf diese Fahrerei keinen Reim machen, als der Trecker mit laufendem Motor stehen blieb. Der Fahrer stieg ab und rollte mitgebrachten Stacheldraht auf, um eine schadhafte Stelle im Zaun zu reparieren. Dann setzte der Bauer seine Zaunkontrolle fort, lenkte seinen Trecker aber bald wieder Richtung Nachbardorf. Der muss von der Landwirtschaft leben, du brauchst die Jagd nicht dazu, tröstete ich mich über diese Jagdstörung hinweg.

Als ich noch überlegte, ob es Zweck hätte, den Ansitz fortzusetzen, schlüpfte etwa auf zweihundert Gänge links von mir entfernt ein Reh durch eine Hecke und stand breit und ruhig in der Morgensonne. Jetzt hatte ich natürlich Zeit. War es ein Schmalreh oder war es eine junge Ricke? Die Frage beantwortete die junge Ricke, indem sie ein Kitz immer näher an mich heranführte. Donnerwetter. Kitz am vierten Mai! Das entsprach dem Stand der Vegetation in diesem Frühjahr. Lange Zeit konnte ich das Idyll beobachten, wie die junge Ricke mit dem staksigen Kitz langsam Richtung Wald zog und es zwischendurch manchmal beleckte. Natürlich kontrollierten meine Augen auch immer den Rest der Szenerie, denn schließlich war ich ja ausgezogen, ein Schmalreh zu schießen. Was aber dann rechts von mir austrat war kein Schmalreh, sondern eine sehr starke hochbeschlagene Ricke mit einem Jährlingsbock im Schlepptau. Das Böckchen hatte sich wohl im Kalender vertan, denn es trieb die Ricke, als sei Brunftzeit. Bergab, bergauf ging die wilde Fahrt und in kürzester Zeit hatte das Paar das ganze, etwa ein Kilometer lange Tal zwei Mal durchmessen, bevor es wieder im Wald verschwand. Der Bock hatte ein Sechsergehörn, ganz weiße Stangenenden ragten wohl vier Finger breit über die Lauscher. Allerdings hatte das Gehörn wenig Masse. Treibende Rehe im Mai! So etwas hatte ich noch nie beobachtet. Auch noch nicht davon gelesen. Und ein solch hohes Sechsergehörn bei einem Jährlingsbock sieht man auch nicht oft. Als es zehn Uhr wurde, baumte ich ab. Im Revier wartete viel Arbeit. Wieder kein Jagderfolg. Wieder kein Schmalreh erlegt. Aber Stoff genug für das Jagdtagebuch eingefangen.

Für die Rückfahrt ins Dorf wählte ich den Hauptholzabfuhrweg mitten durchs Revier. Da ich keinen Jeep habe, muss ich hier immer ganz langsam fahren, um nicht mit dem Auto aufzusetzen. Der schlechte Weg erfordert höchste Konzentration. Gleichzeitiges Beobachten der Landschaft ist fast unmöglich. Dabei ist gerade jetzt der Laubwald so schön. Wie auf den Bildern der Romantiker. Da die Kronen der Bäume noch nicht ganz geschlossen sind und die typische Frühjahrsvegetation sich noch nicht ganz zurückgezogen hat, ist auch der Waldboden noch mit Grün bedeckt. Durch das geöffnete Autofenster zieht ein Duft wie aus einer südländischen Küche. Es ist der Bärlauch, der hier in größeren Kolonien wächst und den von mir nicht, von anderen aber sehr geschätzten, Knoblauchduft verströmt. Wie außergewöhnlich weit das Wachstum in diesem Frühjahr fortgeschritten ist, zeigen auch die schon sichtbaren, weißen Blüten des Waldmeisters. Wer sich hier noch mit Kraut für eine Bowle eindecken will, muss sich beeilen.

Ein kleines Rudel weiblichen Damwildes steht im Hang des Hochwaldes und äugt gelassen dem fahrenden Auto nach. Bald werden die tragenden Stücke sich vom Rudel absondern und ihr Kalb allein zur Welt bringen. Wenn das Vorjahreskalb weiblich ist, darf es dann auch noch ein Jahr als Schmaltier bei der Mutter bleiben und lernen, wie ein Kind groß gezogen wird. Die männlichen Kälber des Vorjahres werden aber hinausgeschickt ins feindliche Leben und bummeln noch eine Zeit ungebunden herum, bevor sie sich einem Hirschrudel anschließen. Die Damwildpopulation in unserer Gegend ist schwarz, nicht gefleckt, wie man es aus dem Tiergarten kennt. Auch ist unser Damwild stärker und bringt etwa zehn Prozent mehr Gewicht an den Haken der Wildwaage.

Im Dorf angekommen, wird der Drilling sicher im Waffenschrank verschlossen und das Auto mit den Utensilien für den Tag beladen. Heute steht ein Teil der Stangensulzen zur Frühjahrskontrolle an. Auch anderthalb Zentner kohlensauerer Kalk, im Gartenmarkt günstig als Restposten eingekauft, müssen auf der kleinen Wildwiese auf der Kuppe ausgebracht werden. Diese unangenehmste Arbeit wird zuerst erledigt. Obwohl der Boden in unserem Revier dem Brakeler Muschelkalk zuzuordnen ist, muss die Wildwiese immer wieder mit Kalk neu versorgt werden. Der Kalk im Boden ist für die flach wurzelnden Pflanzen der Wiese nicht verfügbar. Auf der Erdoberfläche aber bildet sich durch die Fäulnis abgestorbener Vorjahresvegetation Humus und damit verbunden Huminsäure. Der Oberboden versauert, was sich daran zeigt, dass Moose das Gras durchwachsen. Die meisten blühenden Pflanzen können jedoch die Säure nicht vertragen. Gibt man aber Kalk auf die Fläche und neutralisiert damit die Säure, erhöht also den ph-Wert, hat man im Jahr darauf eine große Pflanzen- und Blütenvielfalt, was dem Wild nur Recht ist. Anderthalb Zentner Kalk reichen zwar nur für einen kleinen Teil der Wildwiese, aber wenig ist besser als nichts.

Eine der zu kontrollierenden Stangensulzen steht im Nietelsiek. Siek ist ein niederdeutsches Wort für Sumpf, und Nieteln sind Nesseln. Nietelsiek hört sich aber jedenfalls viel besser an als Brennnesselsumpf, und so belässt man es auch besser bei der plattdeutschen Ortsbezeichnung.

Hier im Nietelsiek kann man fast immer Waschbärspuren finden aber heute hat auch ein junger Keiler seine Fährte im matschigen Boden gezogen.

Ich hieve einen neuen acht Kilo schweren, rot gefärbten Mineralsalzleckstein an seinen Platz auf einem in etwa Kopfhöhe abgesägtem Erlenstamm. Die Rinde des Stammes ist abgeschält. Die Regentropfen spülen nun im Laufe eines Jahres das Salz an dem Stamm hinunter, wo es vom Wild aufgenommen wird. Insbesondere zur Zeit des Haarwechsels im Herbst und im Frühjahr sind die Mineralstoffe und Spurenelemente dem Wild hochwillkommen.

Während dieser Arbeiten sind Ela und Akira immer bei mir. Sie kämen gar nicht auf die Idee, streunen zu gehen. Ela weiß, dass wir Beute nur gemeinsam machen können und Akira tut sowieso, was Ela vorschreibt. Das mag aber auch ein Grund dafür sein, dass Akira jagdlich so ein Spätzünder ist. Mama macht es ja.

Das Mittagessen schmeckt mir heute gar nicht. Die Frühkartoffeln vom Discounter sehen zwar aus wie gemalt, aber wohlschmeckend sind sie nicht. Ich muss der Oma in dem kleinen Haus am Ortsausgang im Herbst mal wieder ein Körbchen Erdäpfel aus ihrem Garten abluchsen. Der Mittagsschlaf fällt etwas zu kurz aus. Bin ich wach geworden, weil Nachbars Hündin Tanja wieder einem fremden Wanderer ihr Misstrauen kundgetan hat, weil Heinrich wieder seinen Trecker mit einem Porsche verwechselt hat, oder waren es beide Ursachen? Jedenfalls war der kurze Schlaf erholsam.

Der Nachmittag vergeht wieder viel zu schnell. Aber immerhin sind noch zwei Stammsulzen versorgt und ein Ansitzschirm neu verblendet, ehe ich mich wieder auf der Hasenkanzel ansetze. Der Wind kommt jetzt aus Süd-West, von halb links. Wenn er aber schräg auf den dichten Fichtensaum trifft, ändert er seine Richtung und streicht gleichsam wie Südwind an der Waldkante entlang. Für mich bedeutet dies, dass rechts von der Hasenkanzel wohl kaum Wild austreten wird, da der Wind ja mein für das Wild unerträgliches Parfüm zweihundert Meter weit transportiert. Als ich noch überlege, ob ich nicht besser wieder abbaumen sollte, tritt aber entgegen aller Erwartung rechts von mir die bekannte Dreiergruppe Rehwild aus. Zu weit für einen Schuss, aber mit dem Fernglas gut ansprechbar. Das schwache Schmalreh mit der dunklen Decke sollte eigentlich erlegt werden. Wenn die Ricke es in Kürze, nachdem auch sie gesetzt hat und sich um den neuen Nachwuchs kümmern muss, verstößt, wird es für die schwächere ihrer beiden erwachsenen Töchter schwer werden, einen geeigneten Lebensraum zu finden. Mobbende Geschlechtsgenossinnen werden es nicht dulden, dass sie saftige Wiesen aufsucht. Sie wird eine Nischenexistenz im Walde führen und Naturverjüngung verbeißen.

Die drei Rehe ziehen langsam weiter in nördlicher Richtung fort. Ich sehe an ihren Spiegeln, dass sie leicht beunruhigt sind, weil sie Duftpartikel von mir wahrnehmen. Jetzt plötzlich ist der Spiegel der Ricke völlig weiß und breit gespreizt. Sie hat die Gefahr erkannt. Noch ein Blick Richtung Hasenkanzel und mit großen Sprüngen zurück in den Fichtenbestand. Die beiden Schmalrehe folgen sofort. Bis zum Einbruch der Dunkelheit zeigt sich kein Wild mehr im weiten Blickfeld der Kanzel. Das schwache Schmalreh hat noch eine Frist.

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