Blattjagd im Hochwald

Mit Hochwald ist hier nicht die forstwirtschaftliche Bezeichnung gemeint, sondern der westliche Teil des Hunsrücks, der auf einer Höhe mit dem Soonwald und dem Idarwald liegt, trägt diesen Namen. Große, zusammenhängende, Waldflächen von mehreren tausend Hektar sind bezeichnend für das Gebiet um die Stadt Birkenfeld. Der Autofahrer stößt hier nicht ständig auf neue Ortschaften, die wenigen kleinen Walddörfchen und Weiler liegen abseits der Fernstraße.

Hier ist noch Platz für das Rotwild, das ja im Gegensatz zum Rehwild zum Hochwild zählt, wie ja die Wildschweine auch. Und so kann man mit Recht den Hochwald auch als Hochwildgebiet bezeichnen. Natürlich gibt es hier auch Rehe genug. Unter waldbaulichen Aspekten vielleicht sogar mehr als genug. Das Reh hat nämlich kein Interesse daran, in einem Waldgebiet mit großen starken Bäumen zu leben. Es will lieber in einer Buschlandschaft wohnen, denn im Gegensatz zu den hohen Bäumen bieten Büsche ihm Schutz und Nahrung. Deshalb verbeißt es die Terminaltriebe der jungen Bäumchen, die dann eben nicht so schnell in die Höhe, sondern mehr in die Breite wachsen. Das hat die Natur nun einmal so eingerichtet. Für den auf Nutzholz ausgerichteten Waldbau ist das allerdings nicht zuträglich. Zu viele Rehe sind daher für den Waldbauern nicht tolerierbar.

Schon einige Tage hatte ich in dem mir vom freundlichen Forstbeamten zugewiesenen
Revierteil auf Rehwild angesessen. Auch beim Erkunden des Bezirks, in dem ich jetzt jagen kann, hatte ich immer wieder Rehe gesehen. Im August dürfen aber nur Rehböcke und Schmalrehe erlegt werden, Kitze und Ricken haben noch Schonzeit. Wenn im ersten Augustdrittel die meisten weiblichen Rehe ihre Brunft schon hinter sich haben, steht den Böcken der Sinn immer noch nach Liebesabenteuern. Sie sind fast den ganzen Tag auf den Läufen, äsen und ruhen wenig. Auch die älteren Herren, die sonst sehr heimlich leben und nur selten zu sehen sind, weil sie nur nachts ihren Einstand verlassen, vergessen auf der Suche nach einer paarungswilligen Partnerin ihre sonst sprichwörtliche Vorsicht. Ist ein Reh oder ein Schmalreh zur Paarung bereit, gibt es das durch einen Fiepton, der weithin hörbar ist, zu erkennen. Es ruft sozusagen nach einem Kavalier. Diesen Fiepton kann der Mensch imitieren, indem er die Atemluft durch die Lippen auf ein Buchenblatt presst. Und diesen Trick nutzen die Jäger seit Alters her, um den Rehbock aus seinem Versteck zu locken und ihn zu erlegen. Von diesem natürlichen Instrument, dem Blatt nämlich, kommt der Begriff Blattzeit für die ersten Tage im August und auch der Begriff Blattjagd. Heute nutzt man allerdings auch Blatter, Instrumente, die man im Jagdbedarfshandel kaufen kann. Es gibt allerdings auch Jäger, die die Blattjagd ablehnen, weil sie sie für unwaidmännisch halten. Der bekannteste Vertreter dieser Richtung ist der berühmte Jagdschriftsteller Freiherr von Gagern. Schon einige Tage hatte ich erfolglos auf einen Rehbock gepirscht und angesessen. Morgen sollte es wieder heimwärts gehen.

Für den letzten Abend hatte ich mir als Ansitzplatz einen neu erstellten Hochsitz ausgesucht, der, selbst in Buschwerk verborgen, Blick und Schussfeld auf eine frisch gemähte Waldwiese bot. Schon mehr als zwei Stunden hatte ich gesessen, ohne bis auf ein paar Ringeltauben jagdbares Wild gesehen zu haben. Dennoch hatte ich den schon leicht herbstlich anmutenden Sommerabend Abend genossen. Von seltenem Motorengeräusch eines Flugzeuges abgesehen kein Lärm. Waldesstimmung in würziger Luft. Die Dämmerung kam langsam. Sollte ich es nicht auch einmal mit dem Blatter versuchen?

Dreimal ließ ich das langezogene Piiiuuu eins Schmalrehes ertönen. Nach einer Pause von etwa fünf Minuten versuchte ich es erneut. Nichts tat sich. Wieder legte ich eine Pause ein, um dann erneut den sehnsuchtsvollen Ruf dreimal hören zu lassen. Da plötzlich ein Getrappel hinter mir, als würde ein Fohlen auf der Weide zum Galopp starten. Ein Rauschen im Gebüsch unmittelbar rechts neben meinem Hochsitz und ein roter Strich, ein Jährlingsbock mit kaum daumenhohen Spießchen auf dem Haupt schoss an mir vorbei etwa 20 Meter durch die Wiese, um dann wieder rechts im Buschwerk zu verschwinden. Zunächst war ich völlig perplex, aber schnell wurde mir klar, dass diesen Jährling auf Freiersfüßen wohl ein älterer Bock des Feldes verwiesen hatte. Jetzt hieß es warten. Würde der ältere Bock noch auf die Wiese austreten, solange Büchsenlicht war?
Er tat es.

Nach einer kurzen Totenwacht griff ich dem Alten in sein stark geperltes Gablergehörn und gab ihm den letzten Bissen. Dankbar war ich, gejagt zu haben.

Horüdho!

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