Der weiße Keiler oder jagdliches Missgeschick

Es war kurz vor dem Septembervollmond im letzten Jahr, als ein Freund und ich nachts auf Schwarzwild ansaßen. Mein Freund saß in der Kanzel "am Stucken", die im Zentrum unseres kleinen Reviers steht. Ich hatte mir einen Hochsitz ganz in der Nähe des Dorfes und des am Waldrand gelegenen Friedhofs ausgesucht. Dort stehen neben einer kleinen, als Wildacker genutzten Lichtung etwa vierzig ältere Eichen, die allerdings in jenem Jahr kaum Früchte abwarfen. Ansonsten ist die Lichtung von etwas Jungwuchs und angehendem Stangenholz anderer Laubbaumarten, vornehmlich Buche und Esche umschlossen. An der Kirrung, die wir auf der Lichtung angelegt haben, wurde im Laufe der Jahre schon manches Stück Schwarzwild erbeutet. Oft hatten meine Mitjäger oder ich dort aber auch schon vergeblich gewartet und, wenn wir Glück hatten, anderes Wild beobachten können. Ich hatte an der Stelle aber auch schon des Öfteren Wild, auch Waschbären und Füchse, erlegt.

An jenem Abend aber kamen mir dort Dinge in Erinnerung, die zwar mit der Jagd, aber nicht mit Jagderfolg verbunden waren. Meine Frau hatte dort das sehr seltene Glück gehabt, eine Damhirschkuh und ihre Zwillingskälber mit der Videokamera aufnehmen zu können. Ich hatte dort in einer verschneiten, klaren Mondnacht erlebt, dass eine Bache ihren Trupp Frischlinge nicht auf die Lichtung austreten ließ. Die Kujels wussten genau, dass dort an der Kirrung der süße Mais auf sie wartete. Sie quiekten und wufften genau so wie Ferkel im Stall, wenn sie merken, dass der Bauer mit dem Futtereimer kommt. Die Bache aber wusste um die Gefahr bei hellem Mondlicht und hatte ihre Rasselbande voll im Griff, was sicher einem der Frösche das Leben gerettet hatte. Und wie Bachen sich bei ihrem Nachwuchs die elterliche Autorität erhalten, kann sich jeder vorstellen, der eine Hündin mit ihren Jungen beobachtet hat.

Ich dachte aber auch an die Situation, da ich vor Jahren bei Tageslicht vor dem Schießen eines von sechs starken Frischlingen meine Brille abnahm, und durch das leise Klicken eines Brillenbügels an das Glas die ganze Rotte vergrämt wurde und ich das Nachsehen hatte.

An jenem Abend war herrliches Septemberwetter. Bei klarem Himmel wehte ein leichter Wind aus West. Fast zu hell für erfolgreichen Sauenansitz dachte ich, denn der Mond war schon vor etwa drei Stunden aufgegangen, stand in meinem Rücken und beleuchtete die Fläche vor mir. Ich kuschelte mich in meine Wolldecke, in die ich einfach einen Schlitz geschnitten habe, damit man sie wie einem Poncho tragen kann. Ich genoss wieder die Stille, die an dieser Stelle immer nachts ist, wenn der Wind aus Westen kommt. Und da stand plötzlich am rechten Ende der Lichtung auf dem Wildacker ein weißes Schwein.

Ich war völlig überrascht und glaubte zuerst, ein Hausschwein aus dem Dorf zu sehen. So langsam sortierte ich dann meine Gedanken. Ja, da war im Vorjahr in diesem Revierteil von Mitjägern und auch von mir in einer Rotte ein weißer Frischling gesehen worden. Und wenn eine Sau im September völlig allein durch den Wald stromert, ist es wahrscheinlich ein Keiler. Junge Keiler sollten geschont werden, aber einen weißen Vererber will niemand haben.

Also schießen! Derweil war die Sau auf die linke Seite der Lichtung gewechselt und stand dort vor einem großen Stein, unter dem Maiskörner versteckt waren. Sie stand ruhig, aber mit dem Haupt zu mir gerichtet, und daher nicht zu beschießen. Mein Puls beruhigte sich langsam. Ich habe Zeit, bis du dich breit stellst, dachte ich. Trotzdem kamen mir die nächsten Minuten wie eine Ewigkeit vor. Das Wildschwein guckte unverwandt in meine Richtung. Plötzlich drehte es sich blitzschnell auf den Hacksen um und verschwand im Stangenholz, ohne mir überhaupt eine breite Seite gezeigt zu haben. Von dort hörte ich es unter die Eichen ziehen und nach Genießbarem brechen. Fast eine ganze Stunde hörte ich es dort. Der Mond zog derweil höher und weiter nach Süden. Meine Hoffnung, der Keiler würde noch einmal auf die Lichtung austreten, verflog, als es dann in den Eichen vor mir ruhig wurde.

Nach etwa einer halben Stunde Ruhe hörte ich wieder Bewegung aus dem Eichenhochwald. Ich merkte aber bald, dass es mehrere Stücke sein mussten, die dort anwechselten. Nach so vielen Ansitzen auf Schwarzwild kann an die Geräusche deuten und weiß auch, welches Wild im Anzug ist. Und so stand dann auch plötzlich eine kleine Rotte Frischlinge der 20 Kilo-Klasse auf der Lichtung. Die Sauen machten sich unverzüglich daran, den begehrten Mais aufzunehmen. In solchen Situationen ist es nicht immer einfach, einem Stück die Kugel anzutragen. Es ist immer Bewegung in der Rotte und man kann ja nur ein Tier beschießen, das etwas abseits steht, damit nicht durch Kugelsplitter andere verletzt werden. So suchte ich mir dann einen Frischling aus, der quer zu mir hangaufwärts allein stand, und ließ fliegen.

Als ich wieder sehen konnte, der Feuerschein der Explosion blendet in der Nacht ja für einen kurzen Moment, war die Lichtung leer. Ich sah die letzten Frischlinge noch soeben im Eichenwald verschwinden und hörte von dort auch ihre polternde Flucht. Ich hörte aber, dass ein Stück seine Flucht dort beendete und ich erkannte auch den Todesseufzer. Meine Anspannung ließ nach. Ich wusste, ich war gut abgekommen und, was ich aus dem Eichenwald hörte, war ja sehr beruhigend. Zwar lag die Sau nicht am Platz, aber Ela würde mich schnell zu ihr hinführen. Jetzt galt es zunächst noch etwas abzuwarten und dann den Anschuss zu untersuchen.

Als ich zu der Stelle kam, wo ich den Frischling beschossen hatte, lag dort eine Sau. Mausetot. Mir war also das passiert, was jeder Jäger möglichst vermeiden will. Hinter dem von mir beschossenen Frischling stand sozusagen deckungsgleich ein weiterer, den ich nicht gesehen hatte. Die Kugel hatte die erste Sau glatt durchschlagen und von den Splittern war die Zweite tödlich erfasst worden. Das war eindeutig, denn an dem vor mir liegenden Stück gab es weder Einschuss noch Ausschuss und keinen Tropfen Schweiß.
Aber Glück im Unglück: Die Sau lag.

Für die Nachsuche musste ich nun die Fluchtfährte des ersten Stückes festmachen, denn hier am Anschuss mochte ich ja Ela nicht ansetzen. Sie hätte wahrscheinlich nicht verstanden, was sie suchen sollte, denn dort lag ja die Beute schon. Mit meiner guten Taschenlampe fand ich dann auch bald am Waldrand einige Tropfen Schweiß, auf die ich ein Papiertaschentuch legte, um die Stelle wieder finden zu können. Jetzt holte ich zunächst meinen Freund von seinem Hochsitz ab, denn Nachsuchen auf Sauen mache ich möglichst nie allein.

Auch mache ich sie nur mit dem eigenen Hund, wenn ich sicher bin, tödlich getroffen zu haben. Beim geringsten Zweifel rufe ich am nächsten Tag einen Schweißhundspezialisten.

Vor dem Eichenwald an dem Papiertaschentuch angesetzt, arbeitete Ela am langen Riemen sehr zielstrebig und nach etwa sechzig Metern konnte sie den toten Frischling verbellen. Wir bargen nun beide Sauen und versorgten sie.

Wenn mir dieses Missgeschick der ungewollten Dublette ein Jahrzehnt früher passiert wäre, hätte ich die Situation vermutlich völlig falsch eingeschätzt. Damals hatte ich die Erfahrung bei der Ansitzjagd auf Schwarzwild nicht wie heute. Insbesondere hätte ich damals den Todesseufzer nicht erkannt und das Gepolter der getroffenen Sau hätte ich von dem allgemeinen Fluchtlärm nicht unterschieden. Am Anschuss hätte ich eine Sau gefunden und gerätselt, warum sie keine erkennbare tödliche Verletzung hatte.

Einige Monate später waren zwei andere Freunde, erfahrene Jäger, in einer Mondnacht zu Gast. Horst saß diesmal an dieser kleinen Lichtung bei den Eichen an, während Jörg am Stucken sein Glück ersuchen wollte und ich weiter ab in einer beheizbaren Kanzel die Winternacht zubrachte.

Kurz nachdem ich einen Schuss vernommen hatte, vibrierte mein mobiles Telefon. Horst rief an und meldete, er habe eine alleingehende weiße Sau, vermutlich einen Keiler beschossen. Er sei ganz sicher drauf gewesen, aber die Sau läge nicht. Am Anschuss fanden wir auch keinerlei Schweiß. Nach einer kurzen Kontrollsuche verwies Ela aber reichlich hellroten von Luftblasen schaumigen Lungenschweiß. Darauf entschied ich, die Nachsuche zu wagen. Die Fluchtfährte führte uns in ein vor kurzem geläutertes Stangenholz. Bald wussten wir, dass die Sau nicht mehr weit gegangen sein konnte, da sie offenbar gegen Bäume gerannt war. Und dann lag auch schon der junge, weiße Keiler vor uns. Mit sauberem Kammerschuss. Seine Bergung aus dem frisch geläuterten Stangenholz war recht schweißtreibend, obwohl er noch nicht siebzig Kilo wog.

In diesem Jahr ist in dem Revierteil schon wieder ein ganz weißer Frischling gemeldet worden. Schecken haben wir übrigens öfters.

Horüdho!

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