Ein sturer Bock im Kirchgrund

Kirchgrund ist die Katasterbezeichnung für einen Teil unseres Reviers, der an die Kreisstraße grenzt, die wiederum die Reviergrenze zu unserem Jagdnachbarn darstellt. Dort liegt, von der Straße nur durch einen etwa dreißig Meter breiten Waldsteifen getrennt, unser größter Wildacker. Seine sonst ganz von Laubwald umgebene Fläche beträgt etwa 100 x 100 Meter, ist also mit einem Hektar größer als ein Fußballfeld. Vor Zeiten stand hier ein Forsthaus mit großem Garten. Das war vor der Autozeit, als der Waldbesitzer noch zwei Förster beschäftigen musste.

In diesem Jahr ist der Wildacker zu einem Drittel mit Hafer und Stoppelklee als Untersaat, zu einem weiteren Drittel mit Bohnen und Hafer als Stützfrucht und zum letzten Drittel mit einer Wiesenmischung mit wiederum schwerpunktmäßig drei Kleesorten bestellt. In dem Wiesenteil steht Perserklee vorn an, Rotklee in der Mitte und Weißklee im letzten Drittel des Streifens. Weißklee wird bevorzugt vom Damwild beäst, während Rehwild Rotklee vorzieht und auf den leider nur einjährigen Perserklee recht lecksch ist.

An der Südseite der Fläche steht ein Hochsitz, von dem vor zwei Jahren als letztes Stück Wild von einem Jagdgast ein Fuchs erlegt wurde. Ansonsten sind wir dort mit der Jagd recht zurückhaltend, denn das Wild soll dort ja angstfrei äsen können. Jetzt wollte ich aber ausnahmsweise dort in der Blattzeit einen Rehbock schießen. Mir war bekannt, dass dort ein verhältnismäßig guter Bock ging, dass dort aber auch eine Ricke mit drei Kitzen ihren Einstand hatte. Vor einer guten Woche hatte ich die drei Kitze dort mit ihrer Ricke längere Zeit beobachten können.

Der lateinische Name für unser Reh ist Capreolus Capreolus. Und die Kitze machten ihrem lateinischen Namen alle Ehre, indem sie ständig tobten und Kapriolen schossen.

Als ich den Hochsitz bestieg, wusste ich nicht, ob in dem hohen Hafer und in den Bohnen nicht schon Wild lag oder stand. Der Wiesenstreifen war jedenfalls leer und blieb es auch noch längere Zeit. Auf der nahen Straße war es heute ungewöhnlich laut. Die Wintergerste wurde geerntet und jeder Trecker war im Einsatz. Vogelgesang und Gezwitscher hörte ich nur selten. Lediglich unsere größten heimischen Singvögel, die Kolkraben ließen tiefstimmig und wohlklingend von sich hören. Jetzt im Juli sind die kleinen Sänger wohl abends so geschafft von der Tagesarbeit, dass ihnen nicht mehr nach langen Gesängen der Sinn steht. Die Kolkraben haben sich in den letzten fünf Jahren bei uns wieder gut vermehrt. Als Wotansvögel passen sie ja auch gut in das alte Sachsenland, wo einst Karl der Große seine Schwierigkeiten mit dem Sachsenherzog Wittekind hatte.

So langsam könnte sich aber die Szene hier etwas beleben dachte ich, als vom Waldrand gegenüber zwei Rehe auf die Wiese trollten. Ich erkannte, dass es zwei der drei hier zu erwartenden Kitze waren. Bald gesellte sich auch das Dritte hinzu. Zwei der Kitze sind recht gut bei Wildbret, aber eins habe ich mir für September, wenn Ricken und Kitze bejagt werden dürfen, vorgemerkt.

Die Drillinge ästen sich langsam in meine Nähe, wo der Perserklee ihnen gut mundete. Ihre Mutter war nicht dabei. Wahrscheinlich war sie auf Hochzeitstour, jetzt in der Blattzeit. Dass Wort Blattzeit bedarf vielleicht einer Erklärung. Durch Nachahmen des Fiepens eines brunftigen Schmalrehs oder einer brunftigen Ricke versucht der Blattjäger den Bock aus der Entfernung heranzulocken. Der Fiepton wird erzeugt, indem man mit Druck Luft auf ein vor den Mund gepresstes Buchenblatt bläst. Das funktioniert aber eigentlich am besten, wenn die Brunft bereits vorbei ist, Anfang August nämlich. Aber gemeinhin nennt man die Brunft eben auch Blattzeit. Auch der Blattschuss hat seinen Namen von einem Laubbaumblatt, und nicht etwa vom Schulterblatt. So ein Blatt heftete man früher bei jagdlichen Schießwettbewerben auf die mit dem Bild eines Rehbocks oder einer Gemse bemalte Schießscheibe, und zwar hinter das Schulterblatt, wo das Herz vermutet wurde.

Inzwischen ging die Sonne hinter den hohen Buchen links von mir unter. Durch die Stämme schienen noch kurze Zeit dicke goldene Strahlen. Noch eben war es sehr warm, aber jetzt wurde es doch kühler hier im Tal, wozu natürlich auch der schnell fließende Bach neben der Straße beitrug. Die Kitze hatten anscheinend genug geäst, zum Spielen waren sie aber heute nicht aufgelegt. Wie auf Kommando waren sie plötzlich nach Nordwesten hin verschwunden. Mag sein, dass die Mutter sie gerufen hatte.

Das Tageslicht wurde immer weniger , als rechts aus meinem Rücken ein Rehbock auf den Wiesenstreifen trat. Ich hatte doch den Wind von vorne! Nach allen Regeln hätte der Bock doch da gar nicht herkommen dürfen! Na ja, jetzt war er jedenfalls vor mir und ich unter Wind. Wittern konnte er mich jetzt nicht mehr.

Ich konnte ihn also in Ruhe beobachten. Auch ihm schmeckte der Perserklee und er hielt sich zunächst ganz nah bei meiner Kanzel auf. Seiner Figur nach musste es ein Jährlingsbock sein. Sein Gehörn, zwei gut entwickelte Spieße, wiesen auch darauf hin. Seine Decke war glatt und von einem kräftigen Rot. Herzlich willkommen, dachte ich. Zwar habe ich nicht auf dich gewartet, aber wenn schon der erhoffte Sechser nicht kommt, kannst du mir ja gut die Zeit vertreiben. Der Bock äste in aller Ruhe. Es war kein Spiegel zu sehen. Dort wo dieser blitzt, wenn Rehwild im Alarmzustand ist, lag das Haar dicht am Körper an.

Langsam zog der Jährling von meinem Hochsitz in Richtung Ende des Wiesenstückes fort. Na, gleich wird er in den gegenüberliegenden Hochwald wechseln, dachte ich. Aber nichts dergleichen. Er blieb etwa achtzig Meter von mir entfernt und äste in aller Ruhe weiter. Ich visierte ihn noch einmal durch das Zielfernrohr an. Noch hätte ich ihn schießen können, aber bald wäre das Büchsenlicht geschwunden.

Ich wollte jetzt allmählich auch von meinem Hochsitz herab, aber mein Gast machte keine Anstalten weiter zuziehen. Nun bin ich schon öfter in solchen Situationen gewesen, dass mich das Wild gleichsam auf dem Hochsitz gefangen hielt, denn in solchen Momenten die Leiter herabzusteigen, hätte ein Vergrämen zufolge. Ich habe mir dann immer so geholfen, dass ich dem Dam- oder Rehwild die Situation so ungemütlich machte, dass es den Ort langsam verließ. Meine Methode dazu ist das Pfeifen und Räuspern. Wenn das Wild mich weder wittert noch sieht, verknüpft es diese Lautäußerungen nicht mit der Anwesenheit eines Menschen. Es fühlt sich wegen der unbekannten Töne aber unbehaglich und zieht in der Regel weiter.

Nicht so mein Bock. Auf einige leise Pfiffe hin, unterbrach er nicht einmal das Äsen, um das Haupt zu heben. Auch Räuspern brachte ihn nicht aus der Ruhe. Ich pfiff dann die ganze Melodie von Lili-Marlen. Keine Reaktion. Auch die Melodie des Volksliedes "Wenn alle Brünnlein fließen" zeigte keine Wirkung. Der Bock blieb stur. Ein Zeichen dafür, dass er eigentlich im Revier relativ ungestört aufgewachsen und daher in seinem jugendlichen Alter auch noch unerfahren war. Ich griff zum letzten Mittel und klatschte kräftig in die Hände, wobei ich ihm zurief: Hau ab! Jetzt wurde es ihm endlich ungemütlich und er zog, immer noch ganz langsam, ab. Ich hörte auch kein Schrecken. Also war er nicht ernsthaft vergrämt.

Am nächsten Abend saß ich auf derselben Kanzel. Ein Mitjäger hatte einige Hundert Meter weiter am Nordrande des Reviers in einem Schirm Position bezogen. Schon eine halbe Stunde vor Sonnenuntergang hörte ich aus seiner Richtung einen Schuss. Aha, Josef hat also Waidmannsheil gehabt, dachte ich.

Bei mir trat das schwächste der Drillingskitze aus und äste. Die Mutter natürlich wieder unterwegs und die Geschwister wahrscheinlich noch im Unterholz mit Wiederkäuen beschäftigt, dachte ich so. Das Kitz war aber sehr unruhig. Es warf immer wieder auf und äugte zum gegenüberliegenden Waldrand. Dann sprang es ab.

Bald darauf traten aus der Waldkante, die das junge Reh immer argwöhnisch beäugt hatte, zwei Stücke Damwild aus. Ein Spießer und ein Schmaltier. Sie zogen in das Haferfeld und ließen es sich gut sein an den halb reifen Ähren, die ihnen nur bis zum Brustkorb reichten. Die pechschwarze Sommerdecke beider Tiere glänzte. Wo die Spieße des jungen Hirsches aus dem Haupt traten, konnte ich dicke wulstige Rosenstöcke erkennen. Das wird einmal ein guter, dachte ich. Aber erlegt wird wahrscheinlich er irgendwo in der Nachbarschaft, denn unser Revier ist ein "Damenrevier". Im Alter von zwei Jahren wandern die Hirsche von uns aus ins Gräfliche nebenan.

Damwild und Rehwild verträgt sich selten. Ich habe schon beobachtet, dass ein junger Damhirsch und ein junger Rehbock im gebührenden Abstand voneinander auf einem Wildacker ästen. Ich habe aber auch schon gesehen, dass ein Alttier eine Ricke mit ihren Kitzen von einer Äsungsfläche vertrieb.

So wird auch das schwache Kitz hier gewusst haben, warum es das Feld für die beiden größeren Vettern räumte. Die hielten sich aber nicht lange auf. Als die Bühne wieder leer war und ich überlegte, ob ich nicht abbaumen sollte, stand plötzlich wieder ein Reh in der Wiese. Das war doch nicht der sture Geselle von gestern Abend? Nein, der war doch viel stärker und hatte auch größere Spieße. Ich entschied mich zum Schuss. Der Bock zeichnete deutlich, sprang aber noch nach rechts Richtung Straße ins Unterholz ab. Ich hatte dabei den Eindruck, dass er den linken Vorderlauf schonte. Oh je! Jetzt bloß keinen nicht tödlichen Laufschuss dachte ich. Ich musste aber jetzt noch auf der Kanzel bleiben, um den Bock, wenn er denn nur verletzt war, nicht aufzumüden. Nach geraumer Zeit kontrollierte ich leise den Anschuss, fand Schweiß und markierte die Stelle mit einem Papiertaschentuch.

Dann ging ich auf der anderen Seite des Waldstreifens die Kreisstraße ab, fand dort aber keinen Hinweis darauf, dass der Bock über die Straße ins Nachbarrevier gewechselt war. Während ich auf der Straße war, kam Josef in seinem Jeep und hielt an. Ich sah seinen Bock im Wagen liegen, wünschte ihm Waidmannsheil und bat ihn, mit geladener Waffe da zu bleiben, um gegebenenfalls dem von mir krank geschossenen Bock den Fangschuss zu geben, wenn er während der jetzt zu beginnenden Nachsuche die Straße überqueren sollte. Mir persönlich ging es während dieser ganzen Zeit saumäßig schlecht. Ich legte Ela mit dem Schweißriemen am Anschuss an, und schon drei Minuten später waren wir am Stück, das unter üppiger Krautflora längst verendet war. Der Schuss saß, wie gewollt, in der Kammer, also keineswegs am Lauf. Das Schlenkern des Laufes, das ich zu sehen geglaubt hatte, war also eine Täuschung. "Bock tot" rief ich erleichtert Josef zu, der daraufhin seinen Püster entlud. Ohne Ela wäre das Böckchen, das im Übrigen nur 13 Kilo auf die Waage brachte, nicht so einfach zu finden gewesen, zumal die Dunkelheit jetzt hereinbrach. Auch Josef gratulierte mir zu meinem Bock mit einem zünftigen Erlegerbruch, von dem ich einen Teil abbrach und an Elas Halsung heftete. Denn sie hatte ja auch ihren Anteil an meinem Jagderfolg. Leider hatte Josef sein Fürst Pless Horn nicht dabei. Sonst hätte er noch das Signal "Bock tot" für mich geblasen.

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