Mittsommer

Die Sonne hatte es reichlich gut gemeint in dieser Zeit der Sommersonnenwende. Höchsttemperaturen über dreißig Grad, aber die Nächte brachten erfrischende Kühlung. Ich war eigentlich für einige Tage ins Revier gefahren, um Jungfüchse zu schießen. In meiner Truhe befand sich kein einziger Rotrock mehr, seitdem ich Freund Thomas mit Lehrmaterial für seinen Pudelpointer ausgeholfen hatte. Deshalb hatte ich am ersten Abend bei Ostwind, also Nackenwind, Position in der Hasenkanzel bezogen.

Auf der großen Wiese rechts begann Bauer V. noch um acht Uhr abends seine Heuballen mit einem Treckerzusatzgerät einzuwickeln.

Ich beschloss trotzdem, den Sitz nicht zu wechseln, da er ja wohl in einer Stunde fertig sein musste, wenn alles so reibungslos funktionierte, wie bei dem ersten Ballen. Und tatsächlich tuckerte sein Trecker noch vor neun Uhr wieder heimwärts. 19 große Ballen, gut eingewickelt in weiße Plastikplane lagen am unteren Rand der Wiese. Sie werden nach Bedarf abgeholt und an der Hecke im Tal, wo sie jetzt liegen, verschandeln sie das Landschaftsbild nicht so sehr, wie andere Futtervorräte in Weiß an den Berghängen. Es gibt für diesen Zweck der Heusilage auch grünes Plastikmaterial. Es ist wesentlich unauffälliger und stört das Auge nicht. Warum es nicht allgemein verwendet wird, weiß ich nicht. Vielleicht sollte ich die Landwirtschaftskammer einmal deswegen anmailen.

Als ich am Ede der Wiese unter dem Schwarzdornbusch zwei Jungfüchse bemerkte, war ich überrascht, wie klein und verspielt diese noch waren. Dabei hatte Y. mich doch vor vier Wochen am Rande des Reviers auf zwei Jungfüchse aufmerksam gemacht, die schon einigermaßen selbständig waren und unter Aufsicht ihrer Mutter jagten. Die würden wohl inzwischen so weit entwickelt sein, dass sie ohne elterliche Hilfe durchs Leben kommen. Die beiden Welpen hier waren von diesem Entwicklungsstand aber noch weit entfernt. Als die Fähe dann in bester Schussdistanz quer vor mir her mit dem Fang voller Mäuse und dicken Pausbacken davon auf den Schwarzdornbusch zustrebte, wurde sie dort von ihrem Nachwuchs begeistert empfangen. Wie ähnlich Fuchs- und Hundewelpen sich doch sind. Ich wunderte mich, dass Ermeline mich auf ihrem Weg an der Hasenkanzel vorbei nicht gewittert hatte.

Natürlich war der Mäusevorrat für die Junioren nur eine Zwischenmahlzeit. Als die Fähe sie dann wieder allein ließ, um erneut Futter zu erjagen, spielten sie weiter bis zum Dunkelwerden. Immer Angreifen und Ausweichen.

Keiner kam aber bis auf Schrotschussentfernung an die Hasenkanzel. Und mit dem Loch der dicken Pille im Balg konnte ich keinen Jungfuchs für die Welpen von Elas nächstem Wurf gebrauchen. Nachdem ich abgewägt hatte, dass es unter Hegegesichtspunkten vielleicht doch..... reichte bei der Entfernung das Büchsenlicht nicht mehr für einen Kugelschuss. Also morgen Früh...

Plötzlich schreckte in den Edeltannen hinter mir ganz aufgeregt und anhaltend ein Reh. Aha, der Ostwind kippte, wenn er die Waldkante überstrichen hatte um und zog über dem Erdboden wieder in den Wald hinein. So nahm er meine Witterung mit und meine Duftpartikel waren nicht bis zu der Fähe getragen worden.

Der Wecker klingelte am nächsten Morgen gegen vier Uhr und unausgeschlafen bezog ich wieder Position. Die Jungfüchse verschliefen den Tagesbeginn. Ich genoss aber den Morgen und war froh, den Kampf mit der Bettdecke gewonnen zu haben. Hasen- und Rehwildanblick hatte ich reichlich. Die Fähe von gestern Abend mauste in der oberen Schweinewiese. Links von mir, direkt vor der Bonhauser Kanzel saßen drei Hasen beim Frühstück und ein Altfuchs, vermutlich der Rüde mit dem Prädikat "persönlich bekannt" trabte flott mitten zwischen ihnen durch. Die Mümmelmänner nahmen kaum Notiz davon.

Der Tag verging mit verschiedenen Arbeiten bei glühender Hitze mit kurzer Mittagspause. In meinem Quartier unter dem nicht isolierten Dach schlief ich trotz der Hitze tief und erholsam.

Da der Wind auf Süden gedreht hatte, saß ich abends im Nietelsiek an, zumal ich vormittags dort Fährten von Schwarzwild gefunden hatte. Der Boden ist da sehr weich und sumpfig. Ich war mir unsicher, ob die Fährten von einem oder zwei Stücken herrührten. Und auch über die Stärke konnte man verschieden mutmaßen. Vor fast genau einem Jahr, am 18. Juni, hatte ich hier einen von zwei starken Frischlingen erlegt. Noch nicht ein Jahr alt, aber doch schon eine recht ordentliche Menge besten Wildbrets. Vielleicht würde sich ja wieder eine günstige Gelegenheit ergeben.

Nicht ein Haar habe ich gesehen an dem Abend. Allerdings muss ich gestehen, auch schon früh abgebaumt zu haben, weil ich einfach müde war. Meine Hunde haben es da gut. Sie schlafen bei jeder sich bietenden Gelegenheit und laden ihre Batterien auf. Auf der Kanzel darf Akira dann noch länger auf meinen Schoß schlafen als Ela, die ja viel schwerer ist. Ich versuche aber, meine Zuwendung gerecht zu verteilen.

Am nächsten Tag sind prompt wieder frische Schwarzwildfährten da und auch an anderen Stellen sind Sauen gewesen. Aber auch Waschbären hatten ihre Visitenkarten hinterlassen, allerdings noch keine diesjährigen Welpen. Trotz der schon Tage andauernden Hitze sind im Wald immer noch Pfützen, in denen die Vogelwelt wenigstens schöpfen kann. Wenn es allerdings noch einige Tage so heiß bleibt, müssen die Buchfinken und Meisen entweder zum Emdebach oder zum Mühlenbach fliegen. Ich muss nämlich schon bald wieder fort und kann die Pfützen nicht mit Wasser auffüllen.

Der Wind hatte im Tagesverlauf auf Nordwesten gedreht, was der hohen Temperatur aber keinen Abbruch getan hat. Ich kann mich entscheiden, abends wieder auf die Hasenkanzel zu gehen, wo der Wind jetzt von rechts kommt, wo die Jungfüchse vermutlich ihr Quartier im Schlehenbusch haben.

Vielleicht kommen sie ja schon ein bisschen weiter und näher an die Hasenkanzel heran. Andererseits ist bei Nordwestwind die Kanzel am Eichenhain unweit des Dorffriedhofes ideal, weil dann der Wind aus einem größeren Jungholzbestand herausweht. Dort hatte ich vor Jahren schon einmal vier Jungfüchse an einem Abend erlegt und erst kürzlich hatte es dort verräterisch nach Fuchs gestunken. Und schließlich können dort auch Sauen kommen. Und bei der irrsinnigen Hitze ist auch der Anmarschweg zu dieser Kanzel nicht weit. Also diese Alternative für den Abendansitz.

Auf diese enge Kanzel kann ich beide Hunde nicht mitnehmen. Also wird Akira bevorzugt, weil sie ja noch auf Ruhe trainiert werden muss, wenn Wild anwechselt. Zwar klappt das schon recht gut, muss aber noch verbessert werden. Ela ist natürlich unwirsch, dass sie im Auto bleiben muss und beschwert sich noch, um aber bald Ruhe zu geben.

Ein Blick aus dem Kanzelfenster zeigt, dass eigentlich das Gras auf der kleinen Lichtung längst hätte gemäht werden müssen. Auf jeden Fall muss das noch geschehen, bevor die Disteln in die Blüte kommen. Aber schon jetzt ist der Bewuchs an einigen Stellen schon so hoch, dass ein sicherer Schuss nicht angebracht werden kann. Auch kann ich aus der Kanzel wegen des hohen Gras- und Brennnesselwuchses nicht sehen, ob schon Schwarzwild da gewesen ist oder ob die Kirrsteine noch ordentlich auf den Erdlöchern liegen. Mir geht noch so durch den Kopf, wie lästig für mich die große Entfernung zwischen Wohnort und Revier ist, als mir ein Eichelhäher auffällt. Er kommt und sucht nach einzelnen verschütteten Maiskörnern, fliegt wieder weg, kommt immer wieder. Also, wenn der Bursche dort noch Mais findet, waren die Sauen noch nicht da. Nun bleibt er auf einem Baumstumpf sitzen und beobachtet die Gegend. Offenbar schon satt. Sein buntes Köpfchen dreht er dabei immer oder hält es auch ganz schief. Ich nehme Akira auf den Schoß und lasse sie aus dem Fenster schauen. Markwart aber bleibt sitzen. Er ist also Jungvogel, denn ein richtiger Häher quittiert jede ungewöhnliche Bewegung mit sofortiger Flucht, um dann fünfzig oder hundert Meter weiter aus sicherem Laub- oder Nadelversteck einen lauten Alarm in den Wald zu trätschen. Schließlich flattert mein Gast noch etwas unbeholfen davon, während drei Turtelauben einfallen. Es sind zwei Tauber und eine Täubin, der am Hals der türkis und bläulich changierende Fleck fehlt, und die auch etwas kleiner ist. Auch diese Vögel sind nicht sehr scheu und ertragen meine Bewegungen ohne weiteres. Ringeltauben wären längst geflohen. Sie nehmen jede Bewegung auch innerhalb einer einigermaßen hellen Kanzel wahr und man sagt ihnen nach, dass sie auf jeder Feder ein Auge hätten.

Mich quält Durst und ich beschließe, den kurzen Weg zurück zum Auto zu gehen, wo ich noch ein Getränk habe. Akira nehme ich schon mit und sie geht auch gern in ihren Kasten zum Schlafen.

Als ich zurück zur Kanzel komme, sehe ich muntere Bewegung auf der Lichtung. Frischlinge toben da herum. Da ich die Kanzeltür offen gelassen habe, gelingt es mir unbemerkt in den Hochsitz zu kommen.

Eine nicht sehr starke Bache, aber mit sechs Kujels ist zu Besuch. Ich bedauere, jetzt keine Videokamera dabei zu haben. Was da abläuft, ist wirklich filmreif. Die Bache wirft die schweren Steine hoch, um an den versteckten Mais zu kommen. Sofort wollen die Frischlinge natürlich an die Delikatesse, aber zunächst bekommen sie von der Bache einen gehörigen Stüber.
Vor vier Wochen hätte wahrscheinlich die Bache noch die Steine weggeräumt, um ausschließlich ihren Nachwuchs fressen zu lassen. Jetzt aber gehört es wohl zum Erziehungsprogramm, den Jugendlichen beizubringen, dass man sich so langsam selbst um das Sattwerden kümmern muss. Das haben die Kleinen auch schon begriffen, denn auch untereinander raufen sie um die Maiskörner. Zwei Kujels stehen wie Boxer voreinander auf den Hinterläufen und prügeln mit den Vorderläufen aufeinander ein. Andere prügeln und schubsen ebenso drauf los und das Ganze wird untermalt von Grunzen, Wuffen und Quieken. Wie gut, dass ich mit einem sechsten Sinn Akira schon vorher in das Auto gebracht hatte. Bei diesem lauten Treiben hätte selbst Ela angeschlagen. Ich schaue mir das Theater eine geschlagene viertel Stunde an, mache ein paar Aufnahmen mit der Camera und habe eigentlich keine Lust, ein Stück zu schießen.


D
ann kommen aber wieder die Argumente des Verstandes hoch: Frischlinge müssen geschossen werden. Zu hohe Sauenbestände. Reproduktionsrate. Abwandern der Sauen in die Nachbarreviere im Winter. Und dann der soeben gelesene Artikel in der letzten Jagdzeitschrift zu dem Problem. Da waren auf einem Bild sogar noch gestreifte Frischlinge auf der Strecke und diese waren doch schon gut küchenfähig …

Als einer der Frösche günstig stand, ließ ich fliegen. Sofort war die Bühne leer und ich fühlte mich auch leer. Die sonst gewohnte Freude beim Beutemachen wollte nicht aufkommen. In jedem Jäger steckt wohl eine Hemmung, so junges Wild zu erlegen.

Als ich die kleine Sau versorgt hatte, der Wildkeller ausgespritzt, und die Hunde nochmals draußen waren zeigte die Uhr halb zwölf. Mir war, als sei ich soeben eingeschlafen, als ich durch lautes Rufen meines Namens geweckt wurde. Die Uhr stand auf halb sechs. Bei meinem Bruder hatte die Polizei angerufen und einen Wildunfall an der Kreisstraße gemeldet. Der Erste seit zwei Jahren. Hoffentlich keine Ricke dachte ich. Also Waffe, Schweißriemen und Hunde ins Auto, das Bowieknife von Buck für den Fall des Abfangens mit dem kalten Stahl umgeschnallt und los. Alle Utensilien brauchte ich nicht. Das Reh lag im Straßengraben. Nach seiner Kopfverletzung zu urteilen, muss es sofort tot gewesen sein. Es war eine Ricke. Aus dem noch warmen Gesäuge quoll mir beim Aufbrechen die Milch entgegen. Hoffen wir wenigstens, dass sie nur ein Kitz hatte und dass diesem ein schneller Tod beschieden ist, denn zum Leben hat es noch keine Chance.

Seither muss ich noch oft an den Vorfall denken. Allerdings wird die Erinnerung schnell verblassen. Robert Frieß schreibt dazu, dass das Vergessen des Unangenehmen eine sehr weise Einrichtung der Gottheit sei, ohne die das Leben kaum zu ertragen wäre.

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