Septembermorgen auf der Hasenkanzel

Es ist kurz nach sechs, als ich wach werde. Es ist heute Sonntag. Und wenn Bauer T. heute einmal seine Melkmaschine direkt unter der Hasenkanzel eine Stunde später anwirft, habe ich vielleicht eine Chance auf den Kohlfuchs, den meine Frau gestern und vorgestern abends von hier aus beobachtet hat, während ich einige Hundert Meter weiter auf Rehwild ansaß.

Kohlfüchse sind die Rotröcke mit den langen schwarzen Stiefeln und der schwarzen Luntenspitze. Bei uns sind allerdings Birkfüchse mit den weiß endenden Standarten die Regel. Auf jeden Fall haben wir aber zu viele Füchse, und so kann ich nicht bis in den Winter hinein warten, bis der Fuchsbalg reif ist. Der Fuchs fängt Mäuse, aber auch Junghasen und Rehkitze. Er ist als wehrhafter Generalist wesentlich lebenstüchtiger als das Niederwild. Und wenn ich den Hegeauftrag des Jägers für das Niederwild ernst nehme, muss ich Reinecke kurz halten.

Als ich die Kanzel besteige ist es fast sieben Uhr. Links von mir nicht weit stehen drei Rehe in der Wiese am Waldrand, die mein Kommen nicht bemerkt haben. Wittern können sie mich nicht. Sie äsen völlig vertraut, was ich daran erkenne, dass ihre Spiegel nicht sichtbar sind. Wenn Rehe nervös werden spreizen sie die Haare um das Waidloch, und man sieht die weiße Unterwolle, den "Spiegel".

Ein Blick durch das Fernglas bestätigt meine Vermutung, dass es sich bei den Rehen um alte Bekannte handelt. Es ist die Ricke, deren weibliches Kitz ich vorgestern erlegt habe, und ihr anderes Kitz. Bei dem erlegten Kitz hatte ich an der Art des Nässens erkannt, dass es ein Rickenkitz war. Weibliche Kitze werden bevorzugt erlegt, weil ihre männlichen Geschwister viel eher vom Fuchs gerissen, viel eher dem Straßenverkehr zum Opfer fallen, und auch sonst anfälliger sind. Um ein möglichst ausgeglichenes Geschlechterverhältnis zu erreichen, schont man deshalb die männlichen Kitze. Erreicht wird das Ziel eines ausgeglichenen Geschlechterverhältnisses aus vielerlei Gründen allerdings nicht.

Dritter in dem Trio war ein Jährlingsbock, wahrscheinlich der Sohn derselben Ricke aus dem Vorjahr. Sein Gehörn war nur halb lauscherhoch. Vermutlich wurde er deshalb vom Platzbock nicht ernst genommen und durfte noch in dessen Revier mitlaufen. Diese "Muttersöhnchen" habe ich bei uns schon öfter beobachtet. Sie werden später, durch längere mütterliche Erfahrung und Führung begünstigt, zu guten Böcken.

Inzwischen schien die Sonne schon auf den Gegenhang, das kleine Tal unter mir, in dem die westliche Reviergrenze verläuft, lag noch im Schatten. Im Schlehenbusch vor mir turnt ein kleines Vögelchen, das ich nicht kenne.

Auf dem Klusberge vor mir leuchtet die weiße Johanneskapelle ins Land. Ich freue mich immer wieder an dieser Nieheimer Heckenlandschaft. Sehr viele Weidezäune sind hier noch in Hecken eingegliedert. Und diese Hecken verbessern nicht nur das Kleinklima und die Futterbedingungen für allerlei Getier; sie geben der Landschaft auch ihr Gepräge. Natürlich aber auch dem Fuchs Deckung, die er gern sucht.

Meine Hoffnung, dass Bauer T. heute ein Stündchen länger schlafen würde, erfüllte sich leider nicht. Von der Kreisstraße her hörte und sah ich seinen Trecker in den Feldweg zu seinen Wiesen einbiegen. Offenbar war er sogar früher als sonst, denn das Vieh stand noch nicht erwartend an Futterplatz und Melkmaschine, wie sonst. Also was tun? Abbaumen und fällige Dinge erledigen? Oder einfach mal eine Stunde einem anderen bei der Arbeit zuschauen und beobachten, was sich sonst in der Landschaft abspielt.

Ich dachte an die bevorstehende Heimfahrt an den Wohnort, an verschiedene daheim wartende Aufgaben und zu erwartenden Stress. Gönn dir das Nichtstun, dachte ich. Und blieb sitzen. Eine Stunde werkelte der Bauer bei seinem Vieh. Obwohl wir ein gutes Verhältnis miteinander haben und ich ihn hätte anrufen können, nahm ich keinen Kontakt auf. Ich schaute ihm ganz einfach zu, wie er zunächst einer etwas behinderten Kuh zur Futterstelle half, dann alle Tiere an ihrem bestimmten Platz in der Reihe einspannte und ihnen Futter vorschüttete. Alle wurden angeschlossen und dann der fast schon schrottreife alte Bulldog, dessen Motor im Leerlauf quasi die Melkmaschine betreibt, angeworfen. Nach und nach wurden die Kühe dann aus ihrer Pflicht entlassen und konnten wieder zu ihrem Weideplatz zurückkehren. Dabei kamen sie dann an einem Wassertankwagen vorbei, an dem sie ihren Durst stillten. Solange eine Kuh schöpfte, blieb die Nächste geduldig stehen, bis sie selbst an der Reihe war. Nach etwa einer Stunde war alles erledigt. Bauer T. lenkte seinen Trecker wieder dem Hof im nahen Dorfe P. zu.

Über dem Tal lag wieder die Stille des Sonntags. Kein Vogelgesang, nur mal ein leises Zwitschern oder Piepen. Die verliebten Tauber aus dem nahen Wald riefen allerdings immer noch wie im Frühling. Der Kolkrabe schwätzt auch das ganze Jahr. Dann aufgeregtes Krähengeschrei vor mir. Was ist da los?

Zunächst höre ich den Schrei des Bussards, dann sehe ich zwei dieser Flugkünstler über das Tal segeln. Sie reizen die Krähen zur Weißglut. Uralt ist dieser Hass zwischen Krähen und Greifen. Oft kann man sehen, wie eine größere Zahl Krähen Bussard oder Falk verfolgen. Heute belassen es die schwarzen Feldräuber allerdings bei ihrem Wutgeschrei. Von Süden her höre ich die Glocken der Kirche des Dorfes, in dem der Dreizehnlinden-Dichter F.W. Weber geboren wurde. Sie rufen zur Messe. Ja, vielleicht nächsten Sonntag.

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